»Berührungen«, zehn kaum merkbar verbundene Geschichten.
Madeleines Kind
Dass er im vierten Stock wohnt, daraus kann ihm niemand einen Vorwurf machen, er ist nicht schuld, dass das Kind tot ist.
Er hat es gut gemeint mit Madeleine, »komm zu mir« hat er gesagt, als sie am Telefon geweint hat. Sie hat nicht weinen wollen, das hat er schon gemerkt, sie hat nur fragen wollen, ob sie einen Nachmittag lang das Auto haben kann. Aber das Weinen hat sich vorgedrängt wie eine aufgebrachte Menschenmenge und hat sich nicht zurückhalten lassen.
Er war freundlich, obwohl er wütend war, nicht nur auf den Kerl, wie er den Harry insgeheim nennt, auch auf Madeleine, sie hatte den Kerl ja geheiratet. »Mach nur das nicht«, hatte er damals gesagt, und sie hatte bloß gelächelt.
Und dann kamen ihre Streite mit dem Kerl.
Und dann kam das Kind.
Sie gebar es in einem Streitnest.
Drei Wochen nach dem verweinten Telefonanruf stand sie vor der Tür, die Umarmung fiel zaghaft aus, der kleine Jimmy war im Weg, in einer Tragetasche an ihrer Brust. »Hallo Alter«, sagte sie. Sie wusste, dass er das mochte. Vor anderen Leuten nannte sie ihn beim Vornamen, hallo Alex. Vater hatte sie nie gesagt. An der Menge des Gepäcks, das der Taxichauffeur die Treppen hochtrug, sah er, dass sie für eine Weile bleiben würde. Windelpakete, Badewännchen, Autositzchen. Jimmy schlief.
Alex hatte Jimmy erst zweimal gesehen, im Spital, verkniffen und rotkopfig, und kurze Zeit später, an Madeleines Geburtstag, da schrie er die ganze Zeit. Kein schönes Kind, hatte Alex gedacht. Madeleine war von Anfang an süß gewesen, ein Lächelmädchen, ein Schmelzbrötchen.
»Du bleibst ein Weilchen?«, sagte Alex.
»Wir bleiben ein Weilchen«, sagte Madeleine.
In ihrem alten Kinderzimmer stieß Alex die Läden auf, und Madeleine nestelte an der Brusttasche und legte den schlafenden Jimmy aufs Bett. Sie tat das so langsam und vorsichtig, als wäre er eine Seifenblase oder ein heiliger Gral aus Zuckerwatte. Jimmy wachte nicht auf. Alex beugte sich über ihn und sah mit Verwunderung ein niedliches kleines Gesicht. Madeleines Kind. Sie legte warnend den Finger auf den Mund, und erst jetzt fiel ihm auf, wie bleich sie war, wie ernst, erst jetzt sah er das nervöse Zucken ihrer Oberlippe. »Tee«, flüsterte er.
Sie folgte ihm in die Küche und setzte sich an ihren alten Platz. Hier, im matten Licht vor dem gelben Vorhang, sah sie besser aus, fast wie früher, sie seufzte zufrieden. Er beschloss, sie nicht gleich auszufragen. Sie sollte reden, wenn ihr danach zumute war. Gerade als er den Teekrug anhob, um ihre Tasse zu füllen, schrie das Kind. Es hörte sich nicht wie ein Kind an, eher wie ein unbekanntes wütendes kleines Tier. Madeleine stand sofort auf, horchte und ging. Sie schloss die Küchen- und die Kinderzimmertür hinter sich zu. Jetzt klang es, als sei das wütende kleine Tier in eine Kiste gesperrt.
Vielleicht kommt sie gleich, dachte Alex, vielleicht stillt sie ihn hier am Küchentisch oder sie macht ihm eine Flasche zurecht. Er trank wartend seinen Tee, aber sie kam nicht.
Im Supermarkt füllte Alex den Wagen mit Sachen, die Madeleine mal gern gehabt hatte, Traubensaft, Toastbrot, Erdnussbutter ... Jetzt, wo sie mit dem Kerl zusammenlebte, mochte sie vielleicht anderes lieber, aber wie sollte er das wissen. Er wusste ohnehin kaum was von ihrem neuen Leben. Er kaufte Putzschwämme und teure Seife und Eau de Toilette fürs Badezimmer und für sich eine Zahnbürste, seine alte sah aus wie zertrampelt. Madeleine sollte sich nicht vor ihm grausen. Zum Abendessen wollte er ein paar Steaks braten, gleich beim Nachhausekommen würde er sie marinieren.
Als er nachhause kam, war die Kinderzimmertür immer noch zu und das Kind schrie immer noch, jetzt hörte es sich an wie abgehacktes Keuchen. Alex presste das Ohr an die Tür. Vielleicht musste er Madeleine Hilfe anbieten, vielleicht würde das Kind auf dem ungewohnten Arm des Großvaters ruhig werden? Aber wenn er jetzt klopfte, dann störte er Madeleines Strategie. Auf ihren vorwurfsvollen Blick wollte er lieber verzichten.
Der Kerl war ein Bankbeamter. Er sprach von sich als Banker. Madeleine hatte ihn im Flugzeug kennen gelernt. Damals hatte sie in den Semesterferien gearbeitet und sich dann ein Wochenende in Berlin gegönnt. In den folgenden Monaten ging sie häufig mit Harry aus, aber Alex bekam ihn nie zu Gesicht. Irgendwie schuf er sich aus den beiden Tatsachen, dass Harry Harry hieß und in Berlin gewesen war, das Bild eines liebenswerten aufgeklärten jungen Mannes. Und er erschrak nicht schlecht, als er ihm zum ersten Mal begegnete. Es dauerte höchstens zehn Minuten, bis Alex wusste, dass der Kerl vehement gegen alles war, was ein bisschen Toleranz oder Fantasie voraussetzte. Er war ein aufgeblasener, durchschnittlicher, gepflegter Jungmann. Wie konnte sie nur, seine Madeleine, Dinas Madeleine. Nur gut, dass Dina das nicht sah, weil sie schon vier Jahre tot war.
Vier Jahre lebte Alex jetzt allein, Dinas Bett und Dinas Kleider und Dinas ganzer Kleinkram waren schon lange entsorgt. Aber die Wohnung war immer noch voller Dinge, die Dina berührt hatte, und immer noch hingen überall wie Spinnweben die Schatten ihrer Gefühle. Und immer noch war in Alex Hinterkopf der Gedanke: Was Dina wohl meint dazu. Zum Regenmantel, den er sich kaufte, zum Langlauf-Weekend, das er buchte, zum Zahnimplantat, für das er sich entscheiden musste. Was Dina wohl meint dazu. Und wenn er etwas Wunderbares sah, zum Beispiel Schwäne, die weiß aus dem weißen Nebel tauchten, dann freute er sich nur so lange, bis ihm einfiel, dass er das Dina nicht erzählen konnte. Sie war tot, tot, tot. Sie gab ihm nicht mehr auf die Nerven, sie schwieg ihn nicht mehr an, sie störte ihn nicht mehr beim Zeitungslesen. Sie war totaltot.
Madeleine erschien unter der Küchentür und sagte »Er schläft«. Es klang so dramatisch wie »Der Krieg ist aus«. Alex musterte sie verwundert. »Du konntest auch ab und zu mal schreien«, sagte er. »Und Jimmy kann ab und zu mal schlafen«, sagte sie und fing an, den Tisch zu decken. »Wo sind die Tischsets?«, sagte sie. Das wusste Alex nicht. Sie rüttelte an der Tischschublade und zog sie so heftig auf, dass sie auf den Boden flog. Sofort hielt sie inne und lauschte. Aus dem Kinderzimmer war nichts zu hören. Die Sets waren in der Schublade. Madeleine nahm sie mit spitzen Fingern heraus und stopfte sie in den Abfalleimer. Sie waren völlig verschimmelt. Alex stellte eine Flasche Wein auf den Tisch. »Ein Glas, mehr nicht«, sagte Madeleine, »ich sollte nicht trinken, ich stille noch.«
Sie kauten lange an den Steaks, die zu hart geworden waren. »Und?«, fragte Alex. »Was ist los?« »Wir nerven ihn«, sagte Madeleine, »Jimmy und ich.« »Und was sagt er, wenn ihr ihn nervt?«, fragte Alex. »Nichts. Er verschwindet.« Madeleine sah die Erdnussbutter auf der Anrichte. »Darf ich«, sagte sie, und während sie wieder und wieder den Zeigefinger in die Erdnussbutter steckte und ableckte, erzählte sie. Harry komme jeweils erst um zwei oder drei Uhr nachts nach Hause. Harry sage, sie stinke nach Erbrochenem. Harry sage, sie sei nicht normal. Und Jimmy auch nicht. Und sie, Madeleine, sei schuld daran. Und Harry habe ihr eine Windel angeworfen, die auf seinem Schreibtisch lag. »Eine volle?«, fragte Alex. »Ja«, sagte Madeleine und lachte das erste Mal an diesem Tag. Wie früher hielt sie sich beim Lachen die Finger vor den Mund. »Es ist schön hier«, sagte sie. »Ich gehe jetzt schlafen.« Alex schaute auf die Uhr. Es war noch nicht mal sieben, ein herrlich warmer Sommerabend. Madeleine zog lautlos die Küchentür hinter sich zu. War diese Tür in all den Jahren überhaupt jemals zu gewesen? Alex sah sich die Türklinke an, eine alte, leicht schräge Messingklinke. Er konnte sich nicht erinnern, sie irgendwann in der Hand gehabt zu haben.
Als er sich mit der Zeitung auf den Balkon setzte, hörte er, dass Jimmy wieder schrie. Alex las die Schlagzeile mehrmals hintereinander. Die amerikanische Raumfahrt vor dem Aus. Jimmy schrie. Die amerikanische Raumfahrt vor dem Aus, vor dem Aus, vor dem Aus. Alex stand auf, horchte, stellte sich wieder vor das Kinderzimmer. Er klopfte zaghaft, dann öffnete er die Tür. Das Schreien war gellend und fauchend zugleich. Madeleine stand und hielt Jimmy bäuchlings in die Luft, als sollte er fliegen lernen. Sie sah ihn böse an. Was willst du, sagte ihr Blick. »Ich kann ihn ein bisschen herumtragen«, flüsterte er. An ihrem Blick änderte sich nichts. »Ich kann ihn ein bisschen herumtragen«, sagte er laut und ging auf sie zu. Madeleine rammte ihm Jimmy in die Arme und warf sich aufs Bett. Es war dämmerig im Zimmer, die Läden waren zu, und es roch säuerlich. Alex trug Jimmy ins Wohnzimmer, er sah, wie Jimmy ob der plötzlichen Helle erschrak, das Schreien hörte abrupt auf. »Na also«, sagte Alex freundlich, und begann mit vorsichtigen Schritten um den Sofatisch herumzulaufen. Nach zwei Runden fing Jimmy wieder an. Er stieß die Schreie mit einer maschinellen Regelmäßigkeit aus. Sein kleines wütendes Gesicht war rot gefleckt. Alex strich ihm im Gehen mit dem Daumen über die Stirn. Er strich und strich, und es fiel ihm ein, dass Dina auf diese Art jeweils Madeleines Weinen fortgestrichen hatte. Damals hatten sie noch hier gelebt, sondern in der Dachwohnung über der giftigen Frau Uelz. Sie hatte zweimal warnend an die Decke geklopft. Alex unterbrach seine Runde um den Tisch und schloss die Balkontür. Jimmys Geschrei sollte nicht nach draußen dringen. Was hatte Dina jeweils gemacht, um Madeleine zu beruhigen? Alex wusste es nicht mehr. Wahrscheinlich hatte er es schon damals nicht gewusst. Er war von der Arbeit nach Hause gekommen, und da hatte Madeleine meistens in ihrem Bettchen gelegen und gelächelt. Alex hatte Räder an das Bettchen montiert, so dass es Dina in die Küche schieben konnte. Jimmys Schreien hatte jetzt etwas Heiseres. Hieß es nicht, Babys hätten oft Blähungen? Tee, dachte Alex, vielleicht Fenchel, das könnte helfen. Aber so was würde Madeleine wohl wissen. Er legte Jimmy aufs Sofa und sah, wie er ruckartig seine Beinchen anzog. Das musste etwas bedeuten. Gerade, als Alex seine Hand ausstreckte, um den kleinen Bauch abzutasten, trat Madeleine ins Zimmer. »Danke«, sagte sie, hob Jimmy hoch und ging mit raschen Schritten hinaus. Alex erschrak. Madeleine hatte seltsam ausgesehen. Mit diesem Gesicht hätte sie in einem Film glatt eine Geisteskranke spielen können. Das Beste war wohl, er ließ sie für eine Weile allein. Er suchte sich ein frisches Hemd, beschloss, sich wegen des Geräuschs nicht zu rasieren, und machte sich leise auf den Weg zum Hinteren Sonne.
Als er nach Hause kam, war es dunkel und still. Er legte sich ins Bett und schlief in seiner leichten Trunkenheit sofort ein.
Er erwachte in der ersten Morgendämmerung, sah die Umrisse der Möbel und im Fenster das fahle gelbe Licht und hörte verwundert das fremde Geräusch. Es musste von draußen kommen, vielleicht von einer Schleifmaschine drüben beim Bauplatz. Nein, das war keine Maschine. Das war Jimmy. Alex zog sich das Kissen übers Ohr, sammelte die letzten Fetzen seines Traums und versuchte vergeblich, wieder darin einzutauchen.
»Max hat gesagt, Muttermilch brauche drei Stunden, um verdaut zu werden.« Alex wusste nicht, ober er das hätte sagen sollen. Sie saßen am Küchentisch, Madeleine löffelte Frühstücksflocken, Jimmy war an ihrer Brust eingeschlafen. »Wer ist Max?«, fragte Madeleine. »Einer von der Hinteren Sonne«, sagte Alex. »Er sagt, zu kurze Abstände beim Stillen machen Blähungen.« Madeleine warf den Löffel auf den Tisch. »So ein Blödsinn«, sagte sie. »Warum redet ihr in der Hinteren Sonne überhaupt über Muttermilch?« Alex zog die Schultern hoch. Verlegen schaute er auf Madeleines weiße blaugeäderte Brust. Sie hing wie ein blasser Himmelskörper in ihrer blauen Bluse. Jimmy rührte sich nicht. Jetzt könnte sie ihn doch ein bisschen hinlegen, dachte Alex, sich in Ruhe ein bisschen frisch machen, das fettige Haar waschen und in der Morgensonne trocknen lassen, draußen auf dem Balkon, auf dem weichen Sessel, mit einem Kaffee, wie früher. »Willst du ihn nicht ein bisschen hinlegen?«, fragte er. »Nein«, sagte Madeleine fauchend. »Warum, stört er dich?« »Nein«, sagte Alex, »ich dachte nur«. Er stand auf, um die Eier aus der Pfanne zu holen, bevor die Eieruhr zu schrillen anfinge und Jimmy wieder aufweckte. Nur das nicht. Madeleine sah so schlecht aus wie noch nie. Er stellte die Eier in die Becher und köpfte sie. Eigelb und Eiklar floss über den Rand des Bechers. Madeleine blickte angewidert zur Seite.
Nach einer Woche in Jimmys Gesellschaft hatte sich Alex‘ Leben spürbar geändert. Er schlurfte nicht mehr einfach durch die offenen Zimmer, sondern machte dauernd Türen auf und zu, auf möglichst lautlose Art. Zum Fernsehen hatte er sich Kopfhörer gekauft und kam sich damit seltsam abgekapselt vor. Er erschrak, wenn plötzlich Madeleine neben ihm stand. Nachts erwachte er sofort, wenn er etwas zu hören meinte. Oft kam das Geräusch gar nicht von Jimmy, sondern von draußen. Wenn es von Jimmy kam, blieb Alex lauschend wach und versuchte abzuschätzen, wieviel Geschrei zu den Nachbarn dringe. Morgens beim Einkaufen brauchte er lange, legte manches wieder ins Regal zurück, die scharfen Chilis, den Knoblauch, die Zwiebeln, die schwarzen Linsen, alles was blähte. Zwar hatte Madeleine gesagt, sie könne essen, was sie wolle, aber Wein trank sie ja schließlich auch nicht. Überall in der Küche standen ihre unguten Tees herum, Kümmel, Brombeer, Salbei. Sie goss sie an und vergaß sie dann. Alex hatte im Badezimmer ein Regal geräumt, damit sie Platz hatte für Jimmys Wäscheeimer und Windelpakete, aber das Regal blieb leer. Madeleine hatte sich mit Jimmy und ihrem ganzen Zeug im Kinderzimmer verschanzt. Wenn immer Alex einen Blick in dieses Zimmer warf, weil die Tür offenstand, sah er ein Chaos im Halbdunkeln.
»Kinder schreien nun mal«, sagten sie am Stammtisch in der Hinteren Sonne. »Ich sehe nicht ein, warum«, sagte Alex. »Der Kleine hat alles, was er braucht, hat einen Busen, an dem er Tag und Nacht hängt.« Die anderen lachten. »So gut möchte ich es auch mal haben«, sagte Max. Alex lachte nicht, und Max sah ihn prüfend an. »Soll meine Ada mal vorbeikommen?«, fragte er. Ada und er hatten fünf Kinder. Ada war nett, aber Madeleine wollte bestimmt keine Ratschläge von Ada. Madeleine war seltsam, und sie wurde immer seltsamer. Sie war wie besessen von der Aufgabe, Jimmy zur Ruhe zu bringen. Verbissen lief sie mit ihm den Korridor auf und ab, wechselte dauernd Jimmys Lage auf ihrem Arm und sang, während er schrie. Wenn sie Alex‘ fragenden Blick sah, verschwand sie in ihrem Zimmer und schloss die Tür mit ihrem Hinterteil. Alex hatte beobachtet, dass sie das so machte. Sie hatte Angst, Jimmy mal kurz hinzulegen. Er konnte sirenenhaft aufheulen, kaum dass sie die Hände von ihm ließ, und das klang wirklich sehr unangenehm. Trotzdem, Alex fand, Madeleine übertreibe. Einmal steckte er den Kopf ins Zimmer und sagte »Lass ihn doch einfach mal eine Weile schreien«, worauf Madeleine ihn mit unendlicher Verachtung ansah.
Wenn sie beim Essen saßen, in den seltenen Oasen der Ruhe, besah sich Alex immer wieder verstohlen Madeleines müde Züge. Die aufgesetzte Munterkeit verschwand, wenn sie kaute oder schluckte, dann war die bloße Verzweiflung zu sehen. Manchmal hielt sie mit aufgestützten Armen die Kaffeetasse eine Weile vors Gesicht und schien zu lauschen, auf den Urton hinter der Stille. Es gab Augenblicke, da roch Alex ihren Schweiß, aber statt ihr vorzuschlagen, ein schönes langes Bad zu nehmen, wandte er sich ab. Sie wollte seine Vorschläge nicht. Es war dieser Schweiß, der Alex am allermeisten verstörte – der Schweiß seines einstmal kleinen Mädchens, das nun nicht mehr ein und aus wusste.
Einmal holte ihn Madeleine ins Zimmer und deutete aufs Bett, auf das stille Bündelchen, und er begriff, dass sie nichts anderes wollte als ihm zu zeigen, wie schön der schlafende Jimmy war, die halboffenen, rosigen Fäustchen, die perfekt modulierten Winzigkeiten wie Kinngrübchen und Nasenflügelchen, die sanft umschatteten samtenen Lider. Alex mochte Jimmy nicht zu lange anschauen, er befürchtete insgeheim, Ähnlichkeiten mit Harry zu entdecken, mit Harry, dem Kerl.
So niedlich, so unschuldig war das Kind, und so furchtbar in seiner Tyrannei.
Es kam vor, dass Jimmy ihn direkt ansah, über Madeleines Schulter oder aus der Kuhle ihres Ellbogens, und sein Blick schien zu sagen: Ich bestimme hier. Ich hab mich nicht für nichts in diese Welt setzen lassen.
Drei Wochen, nachdem Madeleine bei Alex eingezogen war, schrie Jimmy immer noch gleich viel, aber lauter. Zumindest kam es Alex so vor. Und Madeleine hatte auch noch den Rest ihrer Frische verloren. Als Alex hörte, dass sie sich nachts erbrach, beschloss er, Ada herbeizuholen. Er telefonierte ihr vom Einkaufszentrum aus, kaufte Kuchen und deckte zu Hause den Tisch für drei. »Ada kommt, wir wollen den Geburtstag von Max besprechen, den fünfzigsten«, sagte er zu Madeleine. »Du wirst sie mögen.«
Als Ada kam, lag Jimmy schlafend in seinem Korb. »Was für ein schönes Kind«, sagte Ada. Alex sah mit Befriedigung, dass Madeleine die Haare gewaschen und eine frische Bluse angezogen hatte. Sie aßen den Kuchen, und Ada erzählte von ihren fünf Kindern, was jeden Tag schief lief oder kaputt ging, wie sie stritten und sich um die Schulaufgaben drückten. Sie bemühte sich alle möglichen Probleme zu schildern und sich als geplagte Mutter darzustellen, aber ihre Stimme und vereinzelte Ausdrücke verrieten sie: Es war klar, dass sie nichts lieber hatte als ihre fünf wunderbaren Kinder. »So süß sind sie nicht mehr«, sagte sie, beugte sich über Jimmys Korb und ergriff seine kleine Faust. Jimmy blinzelte und gab sogleich ein paar jammernde Töne von sich, worauf Madeleine sich mit einem Ruck erhob und Jimmy aus dem Korb holte. Es ging nicht lange, und Jimmy schrie. Es war das Schreien, das sich wie ein Gerät auf einer Baustelle anhörte. Ada machte erst ein Gesicht, als wollte sie sich entschuldigen, dann stand sie entschlossen auf und folgte Madeleine ins Kinderzimmer. Erleichtert verzog sich Alex auf den Balkon. Jetzt bekam Madeleine endlich die Hilfe, die sie brauchte. Ada würde ihr alle praktischen, fünffach erprobten Kniffe verraten. »Madeleine hält das Schreien nicht mehr lange aus«, hatte Alex am Telefon zu Ada gesagt. »Ich kenne das«, hatte Ada erwidert.
Alex goss den Oleander, den er einmal mit Dina zusammen gekauft hatte. Er hatte die ganzen Jahre überlebt, war immer noch kein üppiger Busch, aber wenn er blühte, roch er – in Dinas Worten – wie ein Pfund Italien. Wenn Jimmy grösser war, würde er den Oleander entsorgen müssen. Er war zu giftig.
Wenn Jimmy grösser war. Alex wusste nicht, wie er sich die Zukunft vorstellen sollte. Hatte Madeleine im Sinn zu bleiben, oder würde sie wieder bei Harry einziehen? Alex trat ans Geländer und sah sich um. Wenig hatte sich verändert, seit Madeleine hier aufgewachsen war. Es war kein schlechter Platz, um groß zu werden. Die Alpen waren immer noch zu sehen, die Wiese und die große Buche waren immer noch da, und die Straße war immer noch still. Direkt am Haus gab es neuerdings eine Reihe Parkplätze. Jetzt am Tag waren sie leer. Nur der weiße Lieferwagen des Spaniers mit der Aufschrift vida nueva stand seit Wochen da. Niemand im Haus wusste, warum der Spanier solange weg war.
Ada trat auf den Balkon. Jimmy schrie noch. »Heute ist es ungünstig«, sagte Ada. »Sie hört mir gar nicht zu. Ich komme besser ein andermal.«
Ada winkte ihm von der Straße her noch einmal zu. Wie sie die Schritte setzte, hatte etwas Fröhliches. Sie schien sich zu freuen auf das große Durcheinander in ihrem Zuhause. Plötzlich verspürte Alex auch Lust, in diesen Sommerabend hinauszugehen, unter diesem blanken hellen Himmel hindurch, die blühenden Ligusterbüsche entlang. Er dachte mit Beklemmung an das verdunkelte Kinderzimmer, und da merkte er, dass alles still war. Jimmy schien zu schlafen. Alex überlegte, wie er Madeleine erklären sollte, dass Ada schon gegangen war. So rasch hätten sie Max Geburtstag kaum organisieren können. Er würde einfach sagen, sie hätte wegen der Kinder nach Hause gemusst. Aber Madeleine zeigte sich nicht. Nach einer Weile spähte Alex vorsichtig ins Kinderzimmer. Madeleine lag mit Jimmy auf dem Bett schien zu schlafen, das lange Haar überm Gesicht, in der Hand ein mexikanisches Fingerpüppchen. Sie rührte sich nicht. Alex versuchte, von der Tür aus ihren Atem zu hören, ans Bett zu treten wagte er nicht.
Wir könnten für eine Woche in die Berge fahren, dachte Alex, in unser altes Feriendorf. Er begann sich auszumalen, wie sie da mit Jimmy zum kleinen grünen See spazieren würden, durch die Wiesen mit dem Wollgras. Sie könnten sich an ihren alten Lieblingsplätzen ausruhen, unter der großen Arve oder an der sonnenwarmen Wand der Scheune. Vielleicht war die Ferienwohnung im Schulhaus noch frei. Er beschloss, die Woche konkret zu planen und erst dann mit Madeleine zu besprechen. Einmal schlief er beim Plänemachen auf dem Balkon ein, und wunderte sich über die Ruhe, als er aufwachte. Madeleine war weg, mit Jimmy. Das war seltsam. Bis jetzt war sie nur ganz selten aus dem Haus gegangen und gleich wieder zurückgekehrt. Diesmal blieb sie lange weg. Nach einer Stunde sah sich Alex im Kinderzimmer um. Das ganze Durcheinander war noch da, dazu eine Bananenschachtel, halb offen, mit alten Sachen von Madeleine: zerfledderte Tintin-Bücher, ein abgewetzter blinder Teddy, ein paar Handvoll kleiner Plastikmäuse, die damals den Cornflakespackungen beigelegen hatten ... Alex wusste nicht, wo Madeleine die Bananenschachtel gefunden hatte, vielleicht auf dem Dachboden. Sowie er sie kommen hörte, lief er rasch in die Küche und gab sich beschäftigt. »Wir waren beim Kinderarzt«, rief Madeleine, »es ist alles in Ordnung.« Alex wartete, dass sie in die Küche käme, dann hörte er, wie sie die Kinderzimmertür hinter sich zumachte. Und wie Jimmy zu schreien anfing.
Als sie sich abends zu Alex auf den Balkon setzte, hatte sie einen dunkelrot geschminkten Mund. So war sie wohl zum Kinderarzt gegangen. Der Mund sah erschreckend aus in ihrem weißen, erschöpften Gesicht. Als sie lachte, war es, als ob eine Tote lachte. Alex fing an, vom Bergdorf zu reden, von frischer Luft und alten Zeiten. »Eine Woche«, sagte er. »Die Wohnung ist frei, ich habe heute angerufen.« Madeleine schwieg. »Sie haben jetzt eine Waschmaschine.« Madeleine schwieg immer noch. »Überleg es dir«, sagte Alex. »Mach ich«, sagte Madeleine, mit geschlossenen Augen.
Sie wurde ihm immer fremder. Wenn sie mit ihm sprach, schien sie sich die Sätze abzuringen, und sie blickte ihn kaum an. Sie schaute auf den Teller, in die Zeitung oder über ihn hinweg. Auch wenn sie scheinbar ruhig dasaß, gab es irgendwo an ihrem Körper eine kaum merkliche Störung. Die Lider zitterten oder die Unterlippe zuckte, eine Schulter hob sich mit einem kleinen Ruck oder die Finger einer Hand krümmten sich und blieben so. Zweimal hörte er, wie sie auf dem Handy mit jemandem sprach, wohl mit Harry, dem Kerl.
An Jimmys Schreien änderte sich nichts. Zwei Stunden Schreizeit in den ersten drei Monaten sei ganz normal, hatte Alex in der Baby-Beilage der Sonntagszeitung gelesen. Aber Jimmy schrie sozusagen immer. Kaum legte Madeleine ihn hin, öffnete er der Mund. Entweder kamen quenglig wehleidige Töne heraus, ein nicht endender Schimpfgesang, oder ein hoher, fast gellender Schrei. Wenn er schlief, sah er wunderbar aus, glücklich, rosig, eine frisch gepflückte Blüte. Es sei alles in Ordnung, hatte der Kinderarzt gesagt. Trotzdem hatte Alex vorsorglich die Telefonnummer der Schrei-Ambulanz ausgeschnitten.
Ohne Madeleines Zustimmung abzuwarten, buchte Alex die Ferienwohnung für Ende Juli. Bis dahin waren noch zwei Wochen Zeit. Er würde es ihr in einem entspannten Moment mitteilen, und er stellte sich ihre freudige Überraschung vor. Abends trank er jetzt mehr Wein als üblich, um rasch und tief einzuschlafen. Wenn er dann im Dunkeln wieder erwachte und durch zwei Türen hindurch Jimmys quäkiges Weinen oder heiseres Schreien hörte, presste er sich das Kissen aufs Ohr und versuchte, an das Bergdorf zu denken und wie er Jimmy durch die blühenden Wiesen trug. Einmal stand er auf und sah, wie Madeleine im Korridor kauerte und sich die Ohren zuhielt. Am folgenden Morgen legte er ihr die Nummer der Schreiambulanz neben die Tasse. Madeleine steckte sie wortlos in die Brusttasche ihres mit Muttermilch verfleckten T-Shirts.
Wenn ihn jetzt der Gedanke an jenen Spätnachmittag überfällt, wie er kühl vom Schwimmen heimkam, mit einer Tüte frischer Kirschen für Madeleine, dann ist die Panik gleich wieder da.
Die Ambulanz stand vor dem Haus, Madeleine war gerade daran, vorne einzusteigen, wobei ihr ein Sanitäter half, sie sah sich nach Alex um, dann schlug der Sanitäter die Autotür zu. Frau Kramm vom Erdgeschoss deutete auf die Milchglasscheiben im Heck und sagte »Das Kind«, und die Ambulanz fuhr los.
Die Panik ist gleich wieder da, dieses Herzrasen, diese Enge im Hals, es dauert ein paar Minuten, und Alex muss sich irgendwo festklammern, muss das Bild in seinem Kopf aushalten, das Bild von Frau Kramm, welche die Kirschen einsammelte, die aus der aufgeweichten Tüte fielen, während Herr Kramm verwundert sagte »Vom Balkon gefallen ist es, das Kind.«
In seiner Panik ruft er nach Dina.
Was Dina wohl meint dazu.
Jimmy starb noch in der Ambulanz, Madeleine kam in Untersuchungshaft, der Lieferwagen des Spaniers, auf dem Jimmy aufgeprallt war, stand bis in den Herbst hinein vor dem Haus, Alex räumte das Kinderzimmer und trug die Bananenschachtel mit Madeleines alten Sachen auf den Dachboden, seine Erinnerungen stopfte er unsortiert in den Müll.
Dass er im vierten Stock wohnt, daraus kann ihm niemand einen Vorwurf machen, er ist nicht schuld, dass das Kind tot ist. Er hat es gut gemeint mit Madeleine, »komm zu mir« hat er gesagt, als sie am Telefon geweint hat.
»Madeleines Kind« ist eine von zehn Geschichten aus der Sammlung »Berührungen«.