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»Aufräumen«

So fängt es an …

Luisa hat beschlossen aufzuräumen. Als erstes muss Alfred weg. 

Seit beinah vierzig Jahren ist sie mit Alfred verheiratet. Alfred ist ein Egosaurier. Er hat vor allem an sich gedacht und tut es immer noch. Die Tatsache, dass Luisa und zwei Töchter an seiner Seite lebten, war für ihn etwa so maßgebend wie der Terminkalender der Müllabfuhr. »Ich bin halt ein Künstler«, sagte er. »Er ist halt ein Künstler«, sagte Luisa. Sie sagte es jahrelang – und wusste, dass er keiner war.

Sie sitzt im Zug nach Wien und blättert im Reiseführer. Der ist schon längst nicht mehr aktuell, aber das macht nichts. Noch nie ist sie in Wien gewesen. »Jetzt bin ich siebzig und noch nie in Wien gewesen«, hat sie zur Coiffeuse gesagt. »Jetzt will ich mir das mal leisten, ohne Grund. Machen Sie mich schön, los.« »Sind Sie sicher, Frau Gallmann?«, fragte die Coiffeuse. »Zwei Zentimeter kurz?« »Sicher, schneiden Sie.« Und die Coiffeuse schnitt, schnitt die seit Jahrzehnten ewig gleichen Lockenbüschel ab. 

Und jetzt sieht Luisa im spiegelnden Zugfenster ihren neuen Kopf. Jünger schaut sie aus mit dem grauen Kurzhaar. Fast wie ein Mann schaut sie aus. Hinter ihrem Kopf fliegen Felder und Wälder durch den Sommerabend, leuchten ein paar Pinselstriche Abendrot, schön.

Bereits nach kurzer Fahrt kommt der Schaffner. Er registriert ihr elektronisches Ticket. Einmal Wien und zurück. »Schönen Abend noch, Madam.« Sorgfältig steckt sie das Ticket wieder ein, es wird der Beweis sein, dass sie nach Wien gefahren ist.

Das klappt ja besser als erhofft, denkt Luisa. Bereits in Sargans kann sie aus- und umsteigen und nach Zürich zurückfahren, rechtzeitig für den frühen Nachtzug nach Mailand. Von Buchs, Feldkirch oder Innsbruck aus wär’s komplizierter gewesen. Sie hat die Fahrpläne genau studiert. Aber eigentlich hat sie keine Eile. Sie ist für volle zehn Tage abgemeldet. Sie hat genügend Zeit, ganze Arbeit zu leisten.

Das Schwierigste an der Arbeit wird sein, nicht aufzufallen. Niemand soll sich an sie erinnern, auch der Herr nicht, der ihr gegenüber sitzt. Er sieht nicht unsympathisch aus, der alte Knacker, er liest im »Steppenwolf«, Luisa hat es gleich gesehen, sie hat eine gute Rundumsicht, wie ein Hase, sieht auch ein bisschen wie ein Hase aus mit den weit auseinanderliegenden Augen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie mit dem alten Knacker vielleicht ein Gespräch angefangen. Aber jetzt will sie nicht auf sich aufmerksam machen, will still und unscheinbar in ihrer Verkleidung verharren: graue Regenjacke, extra fades lavendelblaues Shirt, graue Altfrauenhose, scheußliches senfbraunes Foulard mit Hufeisenmuster. So stellt sie sich eine Nonne auf Urlaub vor. Ihre schönen Sachen hat sie im Koffer. Knallblau, Eierschale, Seidenglanz. Den Tropenvogelhut. Die Eidechsenschuhe.

Alfred, Arschfred. Ein Glück, dass sie ihre Ausbildung schon abgeschlossen hatte, als sie Alfred kennenlernte. So war sie in der Lage, über alle die Jahre für den Unterhalt der Familie aufzukommen, Luisa Gallmann, geborene Racher, Hauswirtschaftslehrerin, Dozentin an der Pflegefachschule.  Sie vergisst sie nicht, diese Müdigkeit, aus der sie sich täglich herausstrampeln musste. Die Todesmüdigkeit.

In Sargans wird sie auf dem Bahnsteig von einem jungen Hündchen stürmisch begrüßt, es wedelt mit allen Körperteilen. Am anderen Ende der Leine zieht ein junger Mann, auch an ihm scheint alles zu schlenkern. Dass man so jung sein kann, denkt Luisa beinahe verwundert und krault dem Hündchen die Ohren. Du sollst dich nicht an mich erinnern, hörst du, Hundekind. Ich will hier nicht gesehen werden. Ich fahre nach Mailand, und das weiß niemand. Ich werde in einem Hotel übernachten, in dem ich noch nie war. Ich werde morgen nach Genua weiterreisen, dort sitzt Alfred und zeichnet an seinem Epos. So nennt er das.

Luisa findet im Zug nach Zürich ein leeres Abteil, sie hat Hunger und wünscht sich ein Schinkenbrot, so ein weiches, ungesundes. Der Walensee glänzt schwarz, sieht aus wie nasser Asphalt. Sie weiß, dass er unheimlich tief ist, er wäre ein wunderbares Grab für die drei, die sie entsorgen will. Alfred, Roman und Doktor Hausammann. Dass es lauter Männer sind, ist Zufall. Es sind einfach drei, die ihr, Luisas, Leben verwüsten, das ist alles. Sie müssen weg. Erst wenn sie weg sind, wird sie Ruhe haben. 

Sie hat ihrer Nachbarin Magi geholfen, vor dem Umzug ins Altersheim die Wohnung zu räumen. Es war furchtbar mit Magi, sich wollte sich von gar nichts trennen. Was Luisa in die Säcke fürs Brockenhaus legte, holte Magi wieder heraus. Eine Vogeluhr, die zu den falschen Zeiten pfiff, Wander-, Bade-, Stepptanzschuhe, Reiseführer für Lappland und Namibia. »Ich ziehe ins Altersheim, nicht ins Grab«, sagte Magi wütend. Sie sortierte stundenlang ihre Bücher, und zum Schluss standen fast alle wieder im Regal. »So geht das nicht«, sagte Luisa, »man muss sich trennen können. Du meinst doch nicht, du wirst mit deinen geschwollenen Füßen noch Stepptanz machen wollen.« »Und du meinst doch nicht«, entgegnete Magi, »du wirst mir mit deinem geschwollenen Gerede das Leben verleiden. Schau dich in deinem eigenen Leben um. Müsstest du nicht mal aufräumen?«

Das war der Moment, als Luisa beschloss, mit dem Aufräumen anzufangen.

Sie nimmt eine Zeitung vom Nebensitz, sie heißt »Rheintaler Bote«, und macht sich auf die Suche nach einem Satz. Seit langem sammelt sie Sätze, die irgendwie schief sind, und notiert sie untereinander in einem kleinen roten Heft. Das Heft hat sie immer dabei, auch jetzt. Sollte sie unter den Zug geraten und jemand würde dann die Handtasche der armen Verunglückten untersuchen, wären die Sätze ein wundersames Rätsel für die Nachwelt oder einfach die unbrauchbare Hinterlassenschaft einer alten Schrulle. Im Heft stehen Sätze wie:

Ich stehe nur auf Siamkatzen, sagte Frau Füglistaller.

Die Volkspartei lässt die Gebärenden auf der Straße stehen.

Und dann machten sie auch noch den Neckar. 

Wenn sie die Sätze liest, liebt sie das Leben, weil es so ungewollt seltsam ist. Streichle mich, sagt das Leben, und liegt vor ihr wie ein zuckender Hund mit zu vielen Füßen.

Der »Rheintaler Bote« gibt nichts her.

Die Churfirsten auf der anderen Seite des Walensees sind im Abendlicht errötet, was aussieht, als drängten sie sich schamhaft aneinander. Luisa sieht Amden, das einzige Dorf am Hang, und sie versucht angestrengt, nicht an Roman zu denken, Romans Mutter kommt aus Amden, macht ein großes Geschrei draus: »Wir haben eben Bergblut.« 

Romans Bergblut, so ein Kitsch. Seine ungeheure Schwermut soll damit erklärt sein, seine leidenschaftliche Natur, was für ein Stuss. Luisa hat ihren Schwiegersohn durchschaut. Er steigt anderen Frauen nach, das ist mit leidenschaftlicher Natur gemeint. Und zu Hause hockt er schweigend vor dem Fernseher und ist zu träge, Mirjam zu antworten. Das ist mit ungeheurer Schwermut gemeint. Luisa kann ihn nur noch still und leise hassen. Er hat mit seinem verdammten Bergblut dafür gesorgt, dass Mirjam jede Fröhlichkeit verloren hat. Sie hat sich in den zehn Ehejahren völlig verändert. Früher hat sie im Bad gesungen, hat in der Küche getanzt, hat sich im größten Durcheinander wohlgefühlt. Jetzt hat sie diesen besorgten, gehetzten Blick, und sie räumt dauernd auf. Wenn sie bei Luisa vorbeischaut, fängt sie sofort an, aufzuheben, was am Boden liegt, und wenn es nur ein heller Faden auf dem dunklen Teppich ist. Sie bleibt nie ein Weilchen sitzen, sondern steht auf, kaum ist die Teetasse leer, und rückt Dinge zurecht, zupft an den Vorhängen, stellt Schuhe präziser in die Reihe. Wie gern hat sie früher gelacht. Wie ein Riesenrülpser kam das Lachen aus der Tiefe und hopste in alle Richtungen. Jetzt ist ihr Lachen nur noch ein höfliches Geräusch. Es wäre höchste Zeit, dass sie sich trennte von Roman. Aber davon will Mirjam nichts wissen. Das wäre eine Niederlage. Mirjam will Siege.

Es liegt an mir, Roman zu entfernen, denkt Luisa. Es hat immer an mir gelegen, die unangenehmen Dinge zu erledigen. Ich weiß nur nicht, wie ich das diesmal anstellen soll. Noch nicht.

Bereits jetzt hat sie einen Fehler gemacht. Sie hätte in Sargans ein Ticket nach Zürich lösen müssen. Es ist ihr nicht eingefallen, sie hat zu lange mit dem jungen Hund geschäkert. Was macht sie jetzt, wenn der Schaffner kommt? Sie wollte doch ja nicht auffallen. Unruhig blickt sie über die Schulter, wenn sie die Tür hört. Zur Rechten liegt jetzt der Zürichsee, der weite, sanfte, wie sie ihn liebt, aber für beschauliche Blicke hat sie nun keine Muße mehr, sie wartet nur noch auf den Schaffner. Sollte er in den nächsten Wochen ihr Bild in der Zeitung sehen, wird er sich wahrscheinlich an sie erinnern. Im Mordfall Gallmann wird die Ehefrau verdächtigt. Da schau, das ist doch die süßsaure Alte, die keine Fahrkarte hatte, ganz rot geworden ist die. Luisa sitzt aufrecht da, das Portemonnaie in den Händen, horcht auf das Schnauben der Tür. Schon ist in der Ferne der Rücken des Pfannenstiels zu sehen, an seinem Saum die Dörfer der Goldküste im Abendgoldstaub, da taucht der Schaffner auf und ist auch schon vorbei, er hat Luisa nicht mal angesehen.

Es ist 18.48 Uhr, als der Zug in Zürich einfährt.

Sie hat zwanzig Minuten. Das reicht für den Kauf von Ticket und Zeitungen. Doch dann stolpert dieser Tölpel über ihren Koffer, bleibt am Boden sitzen und schaut verwundert zu ihr hoch. Eine Flasche in seiner Papiertüte ist zerbrochen, rote Flüssigkeit rinnt gegen ihre Schuhe. Seltsamerweise steht der Mann nicht wieder auf. Vielleicht bedeutet die Verwunderung in seinem Gesicht, dass ihm etwas weh tut. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Sie kann nichts dafür, sie hat ihren Koffer ganz ordentlich hinter sich hergezogen. Inzwischen sind bereits drei Leute stehen geblieben und blicken Luisa fragend an. Was haben Sie mit dem Mann gemacht? Was ist das rote Nasse da am Boden? Endlich zieht sich der Mann an Luisas Koffer hoch, bückt sich, reibt sein Knie, seine Wade, ein junger Kerl, ein tätowierter Tölpel. Sie weiß nicht, ob der säuerliche Geruch aus seinem Mund oder von der Lache am Boden kommt. Als er davonhinkt, rennt sie zum Fahrkartenschalter, sie merkt, dass sie zittert. Und sie schwitzt in ihrer Regenjacke, die Bahnhofshalle wirkt wie geheizt. 

Wieder findet sie ein freies Abteil, belegt die drei leeren Sitze mit Regenjacke und Zeitungen und räumt sie erst weg, als der Zug durch Zürich-Enge fährt. Hier hat sie einmal gewohnt, aber daran mag sie nun nicht denken. Sie lässt sich ins Polster sinken, und prüft, ob die feuchtgeschwitzten Achseln des leidigen Lavendelshirts zu riechen sind. Jetzt hat sie eine Weile Ruhe, sie wird im Speisewagen gepflegt zu Abend essen und sich die Zeitungen vornehmen, auf der Suche nach dem einen oder anderen Satz.

Sechs Jahre wohnte sie mit Alfred in Zürich-Enge, ein bisschen Stuck an der Decke, ein bisschen Sicht auf den See, ein bisschen Enttäuschung bald nach der Hochzeit. Alfred, der Luisa unten am See angesprochen hatte, wo sie beide zuschauten, wie die Seepolizei einen Schwan von einem Angelhaken zu befreien versuchte, dieser Alfred wurde als Ehemann schon bald unfreundlich, und er schien das nicht einmal zu merken. Oft stand Luisa in der kleinen Wohnung am Fenster, blickte auf das bisschen See und fragte sich, warum sie sich von Alfred so hatte bezaubern lassen. »Stellen Sie sich vor«, sagte er, »Sie seien ein Schwan und ich sei der, der die Angel auswirft.« Sie lachte. »Ich, ein Schwan«, sagte sie, worauf er mit größter Leichtigkeit passende Komplimente aus der Luft holte: königliche Haltung, vornehmes Weiß von Hals und Gesicht, Haar voller Glanz wie Gefieder. Sie lachte, es gefiel ihr. Was sie selber jeweils im Spiegel sah, war nichts Weißes, sondern etwas Bleiches, und ihr Haar glänzte nur gerade am Tag der Haarwäsche, dann wurde es stumpf. 

Als der befreite Schwan davonschwamm, hatte Alfred Luisa gefangen.

Sie weiß, wie sie es machen wird, hat lange im Internet recherchiert, hat sich das holländische Handbuch zum Suizid besorgt. Sie hat alles Nötige im Koffer, der Koffer ist tödlich, vielleicht ist der Mann in der Bahnhofshalle deswegen darüber gestolpert. In Genua wird sie ein teuflisch scharfes Vindaloo-Curry kochen, so wie Alfred es liebt, zur Feier des Tages. Wenn er wissen will, was gefeiert wird, wird sie sagen: das Leben. Das Curry wird so scharf sein, dass Alfred nichts von der chemischen Beigabe spüren wird. Für sich wird sie während des Kochens eine Extra-Portion abzweigen, noch bevor sie die selbstgemachte Vindaloo-Paste zugibt. »Ich darf eine Weile nichts Scharfes essen, meine Magenschleimhaut«, wird sie zu Alfred sagen. Auch für das Curry hat sie das Wichtigste im Koffer, Chili, Zitronengras, Vindaloo-Paste, eine Dose Austernpilze. Sie ist gut vorbereitet, sie hat das Vorbereiten gelernt, spätestens als die Kinder kamen, erst Maya, dann Mirjam. Und nach Mayas Unglück erst recht. 

Wieder sieht sie – jetzt in umgekehrter Fahrtrichtung – auf der anderen Seite des Sees den Pfannenstiel. Hügel, Himmel und See sind nun aus drei verschieden blauen Stoffen geschnitten und mit dunklen Nähten verbunden. Auf das Leben, wird sie sagen bei Alfred am Tisch. Auf das verweinte, verpfuschte, verlorene Leben. Sie hält sich die Lesebrille, von der ein Bügel abgebrochen ist, wie ein Lorgnon vor die Augen und liest den Flyer des Speisewagens. Heute Abend gibt es paniertes Schweinsschnitzel mit Bratkartoffeln und Blumenkohl an Béchamel oder Salatteller mit Ei. Sie wird das Schnitzel essen, danach noch Tiramisu, wenn’s sein muss samt Salmonellen. Seit sie alleine lebt, isst sie am liebsten ungesund. Über dreißig Jahre lang war sie Fachfrau für Ernährungskunde, so hat sie ihre Familie ernährt, jetzt will sie von Ernährung nichts mehr hören. Sie isst unbesehen Fettes, Süßes, Übersalzenes, verschlingt alles aus Teig, schmiert überall Butter drauf oder chemisch aromatisierte Streichpaste, schlägt sich den Bauch übervoll oder vergisst ganz und gar zu essen. Wenn ihre Nachbarin Magi ihr besorgt einen Apfel reicht, lacht sie nur und isst ihn dann mit angespanntem Mund. Ich bin ein Ross, denkt sie, ich werde nicht krank, ich habe alles überstanden, alles für alle durchgezogen, und was mich schmerzt, sieht man mir nicht an. 

Als der Zug durch Horgen fährt, schließt sie die Augen. Sie mag das Dorf nicht mehr sehen. Einmal hat sie sich aufgemacht und das Haus von Doktor Hausammann unten am See gesucht, hat davorgestanden und durch den Zaun gespäht, hat die gelben Jalousien, die runden Buchsbäume und die Sonnenuhr im Rasen registriert, wollte wissen, wie der Hausammann lebt und wo er seine Schuld begraben hat. Er hat mit seinem Pfusch meine wunderbare Maya zerstört, hatte sie gedacht, und was tut er, er wohnt, schläft und scheißt in einem Haus mit gelben Jalousien und runden Buchsbäumen, als ob nichts gewesen wäre. Als sich hinter einem Fenster etwas rührte, ging sie nicht weg, sondern starrte weiterhin über den Zaun, es war ihr recht, wenn sie von Hausammann gesehen wurde, oder von seiner Frau oder von seinen Söhnen. Sie wusste, dass er Söhne hatte, gesunde Söhne. Sie blieb stehen, bis sie jemanden im Hause lachen hörte, dann lief sie weinend zum Bahnhof hoch.

Luisa rechnet: Das ist nun achtundzwanzig Jahre her. Und der Hausammann ist achtundzwanzig Jahre älter. Ich muss ihn entsorgen, solange er noch munter ist, denkt Luisa. Aber eins nach dem andern.

Als der Zug den dunkelgrünen Urnersee entlangfährt, setzt sich Luisa aufrecht hin und späht hinaus. Irgendwo dort drüben gibt es einen Strand, wo vor sechzig Jahren ein Schild stand: »Baden verboten«. Hier sei es schön, sagte ihr Vater und zog hinter einem Baum die Badehose an. Dann suchte sich auch Mutter einen Baum, und Vater sagte zu Luisa: »Los, mach.« Sie fror, weil das Baden verboten war und das Wasser kalt, wenn auch schön grün. Die Fahrräder, an der Verbotstafel aneinander gelehnt, glänzten in der Sonne, Mutter sah einen Fischreiher, während sie auf den Rücken schwamm. Und irgendwo dort drüben gibt es eine Kapelle, wo vor sechzig Jahren die Tür verschlossen war, doch Vater fand einen Hintereingang und kletterte über das Gitter, das den Aufstieg zur Empore versperrte. Oben setzte er sich ans Harmonium und spielte »Näher mein Gott zu dir«, und wieder fror Luisa, weil sie Unerlaubtes nicht mochte, auch wenn es schön traurig klang und ihre Mutter dazu summte. Inzwischen hat sie keine Scheu mehr vor Verboten. Sie fürchtet keine Strafe mehr. Was man für richtig hält, findet sie, soll man tun, und es ist nichts Böses dran, wenn man es heimlich tut. 

Niemandem hat sie gesagt, dass sie nach Genua fährt. Mirjam und Magi glauben, sie fahre nach Wien.

Und Maya weiß nichts, weil sie nicht weiß, was Wien ist oder Genua.

Vom Abteil schräg vorne hört sie ein Gespräch, die Frau redet quäkend und unangenehm deutlich, vom Mann vernimmt man nur tiefe vibrierende Töne. Sie sagt etwas von einer unpassenden Strumpfhose und von auffälligen Briefkästen. Er streicht dann ein paarmal über seinen Bass. Jung sind sie beide vermutlich nicht. Luisa wundert sich immer wieder, warum ein Mann und eine Frau zusammenbleiben, die gar nicht zusammenpassen, nicht mal für die Länge einer Bahnfahrt. Sie versucht sich vorzustellen, wie sich die beiden da vorne umarmen, eine Tröte und eine Bassgeige, das geht doch gar nicht. Und doch, überall wo sie hinschaut, sieht sie Paare, seltsame Doppelwesen, die aus irgendeinem Grund aneinanderhaften, mit einem Klebstoff, der schon längst vertrocknet oder verdunstet ist. Wenn sie Menschen erfinden müsste, würde sie von vornherein auf Geschlechter verzichten, auf die ganze Mühsal gegenseitiger Anziehung und auf den lächerlichen Akt der Paarung. Das ist alles sehr schlecht durchdacht, findet Luisa, die Fortpflanzung mit den Milliarden verschleuderten Spermien und mit der knorzigen Gebärerei. Viel besser als Paare wären flinke, unbelastete Individuen, mit einem klaren Blick nach vorne statt nach links und rechts. Gefühle wie Liebe wären weiterhin erwünscht, aber beschränkt, zum Beispiel auf Kinder, die man nach dreimonatiger Brutzeit von der Schulter pflücken könnte.

Die Tröte schräg vorne scheint ihren Reisepass vergessen zu haben. »Warum hast du mich nicht daran erinnert«, sagt sie, und der Bass streicht wieder ein paarmal über die Saiten.

Luisa wühlt in der Handtasche, sie hat ihren Pass dabei. Gallmann-Racher, Luisa Frederike, Größe: 166 Zentimeter. In alten Pässen stand jeweils noch die Augenfarbe. Graublau. Graublau ist Durchschnitt, hat Alfred gesagt. Noch heute wird sie in Italien sein und morgen in Genua. Und dann wird gekocht.