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Daniel Suter, Tages-Anzeiger, November 2006

(…)  Die Geschichten entfalten sich aus der präzisen Beobachtung von inneren und äußeren Zuständen. Nahaufnahmen sind es, welche die Figuren, die Situationen und die Zusammenhänge erst allmählich preisgeben. Nichts ist ausgewalzt, manches nur angedeutet. Kommende Katastrophen nur als Ahnung. »Ich versuche, meine Geschichten offen zu lassen«, sagt die Autorin. »Ihr Wert liegt nicht im Ablauf der Handlung.«

Dennoch sind Angelika Waldis´ Geschichten alles andere als handlungsarm. 2005 veröffentlicht sie »Rocco und Jele« oder »Jele und Rocco« – je nach dem, wie man das Buch dreht. Vom einen Buchdeckel her erzählt Rocco die Geschichte seiner Liebe zu Jele, und vom anderen Ende her erleben wir das Gleiche aus der Sicht von Jele. Nach 71 und 72 Seiten stoßen die Geschichten in der Mitte des Bandes in einer Frontalkollision zusammen. Ein tückisches Buch, denn wie will es gelesen sein? Zuerst die eine, dann die andere Liebe? Reizvoll ist auch das Springen von Rocco zu Jele. Wäre es nach Angelika Waldis gegangen, stünden beide Erzählungen parallel nebeneinander auf den linken und rechten Buchseiten. Doch das wollte kein Verlag wagen.

Welche Lesart auch immer, die Liebesgeschichte beeindruckt durch die Sensibilität, mit der die Autorin sich in die Journalistin Jele und den Lehrer Rocco versetzt. Keine Gefühlswolken, sondern knappe, oft komische Situationen und überraschende Wendungen. Auf einer gemeinsamen Ferienreise durch Litauen wird das Paar auf der Kurischen Nehrung von einem russischen Grenzsoldaten gefangen genommen und misshandelt. Das Beklemmende wirkt wie selbst erlebt. Nein, sagt Angelika Waldis, sie habe mit dem Fahrrad einen Ausflug auf die große Düne an der Ostsee gemacht und dabei auf einmal das unheimliche Gefühl gehabt, kurz über die Grenze in die russische Exklave Kaliningrad geraten zu sein. Folgenlos für sie, nicht aber für Rocco und Jele. »Alles, was in meinen Geschichten passiert, ist fabuliert.«
(…)