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»Tu nicht so«

Eine von vierzehn Geschichten: "Heute wärs schlecht"

Wenn er sie streichelt, legt sie den Kopf in den Nacken. Er fährt ihr mit den Fingern über die Nase, streift ihr die Lider über die Augäpfelchen, massiert ihr die Stirn, sie drückt das Gesicht in seine Hand, mach weiter! Er nimmt ihre Ohren zwischen Daumen und Zeigefinger, sie sind so seidenweich wie eh und je, er reibt sie sanft. Kaum hat er sich von ihr gelöst, blickt sie ihn an, sie blickt ihm nach durch den ganzen Raum, mit diesen großen, dunklen, glänzenden Augen.

»Sie stinkt«, sagt Yvette.

»Sie ist immer noch schön«, sagt Jakob.

Stirb noch nicht, sagt er, bist doch meine Freundin. Hörst du? Dreizehn Jahre schon. Wenn er ihren Hinterkopf streichelt, mit den Fingern das kurze graublonde Haar kämmt, wird sie ganz reglos. Stirb noch nicht.

Eigentlich heißt sie Undine. So steht es in ihren Papieren. Doch bei ihm hieß sie von Anfang an Hundine, kurz: Hund.

Es ist ein früher Sonntagmorgen, als Hund mit Kotzen anfängt. Es klingt furchtbar, dieses Kotzen, es ist ein langgezogener, dumpfer, röhrender Rülpser. Jakob fährt jedes Mal aufs Neue zusammen. Er wischt immer gleich auf, was Hund kotzt, erst das volle Frühstück, dann kleine Lachen gelben Schleims. Jakob hat Angst um den neuen Teppich. Er hat ihn mit Yvette ausgesucht. Schlapp liegt Hund in seinem Korb, rappelt sich nur hoch, um zu kotzen. Plötzlich, wie der Schatten einer Wolke, befällt Jakob dieser unsinnige Verdacht, und er wird ihn nicht gleich wieder los. Hat Yvette Hund vergiftet? Sie war dabei, als Urs sagte, Hunde fänden Antidepressiva lecker, sie würden ganze Schachteln fressen. Yvette hatte gelacht. Und dann sterben sie meistens, sagte Urs, es stand in der Ärztezeitung.

Hund kotzt immer noch gelb. Jakob fragt sich, wozu Körperinneres eine Farbe hat. Könnte doch alles grau sein und trotzdem funktionieren. Er deckt den Teppich rund um Hunds Korb mit Badetüchern ab. Dieser Schleim ist bestimmt ätzend. Hund schaut Jakob zu, bewegt nur die Augen, diese großen, dunklen, glänzenden.

Yvettes Mutter nimmt Antidepressiva.

Als Hundine noch jung war, sind die Leute stehen geblieben, so schön war sie, so viel Schwung war in allen Linien ihres Körpers, so viel Glanz in ihrem blonden Fell, so viel Sanftheit in ihrer Begrüßung. Jetzt hat sie dünne, unsichere Hinterbeine, einen geröteten Anus, einen schweren, schlaffen, schaukelnden Bauch. Und sie keucht. So werde ich auch mal, denkt Jakob, voller Beklemmung.

Das Telefon klingelt, es ist Yvette: »Was machst du?«, fragt sie. »Nichts Besonderes«, sagt Jakob, »ich mach mir einen ruhigen Tag.« Als er aufhängt, ist wieder dieser Verdacht da: Wollte sie hören, ob Hund schon tot ist? Jakob zwingt sich zu sagen: ach was.

Er setzt sich mit der Zeitung auf die Terrasse, es ist warm, obwohl November, die Schweiz will russische Kampfjets kaufen und in Burma ... Hund kotzt immer noch, Jakob kanns nicht mehr hören. Yvette will endlich mal mit Jakob verreisen, nach Rügen, nur ein paar Tage. Oder an den Atlantik. Oder über Ravenna in die Marche. Wovon immer sie liest, dahin möchte sie gleich, »nur ein paar Tage, Jakob.« Aber er kann nicht. Dann müsste Hund ins Heim, würde zittern mit den inzwischen mageren Hinterbacken. Und wie würde er Hund in den Kofferraum hieven? Letztes Jahr noch war er mit Hund im Herbstwald, sie raschelten nebeneinander her, heute wär so ein Tag dafür.

Ich liebe dich, hat Yvette am Telefon gesagt.

Und wenn ich mal bin wie Hund?

Manchmal sitzt Hund mit halbgeschlossenen Augen im Korb und hechelt. Das Zahnfleisch ist röter als früher, und die Zähne, – einst weiß wie frische Pinienkerne – sind gelb, Yvette hat Recht, Hund stinkt aus dem Maul. Aber das ist meistens zu. Gelegentlich kommt Yvette mit Lucca, der gerade vier geworden ist, sie sagt »fass Hundine nicht an, Lucca.« Aber Lucca setzt sich zu Hundine in den Korb und streichelt sie, wobei das Streicheln eher ein Kneten ist, Hundine hält still, aber wenn sie sich besser erheben könnte, würde sie davonlaufen. Einmal stank es so plötzlich und gewaltig, dass Yvette zum Fenster rannte und rief »Was ist das?« »Ein Furz von Hund«, sagte Jakob entschuldigend, und Lucca kreischte vor Freude, »ein Furz von Hund«, rief er immer wieder. »Hund hat Käse gegessen«, erklärte Jakob, »und ihre Gedärme vertragen das nicht.« »Der Hund und ihre Gedärme«, sagte Yvette, »was für ein Kauderwelsch. Und Lucca spricht auch schon so.«

Vier Tage die Woche lebt Lucca bei Yvettes Mutter, weil es oft spät wird, bis Yvette von der Arbeit kommt, sie ist Pressesprecherin bei einem Chemiekonzern. Sie ist zu elegant für mich, dachte Jakob, als er sie kennen lernte, aber inzwischen hat er sich an ihre perfekte Erscheinung gewöhnt, sie ist sogar perfekt, wenn sie Jakobs zerrissenen Pyjama trägt, so ist Yvette nun mal.

Hund ist es egal, dass sie Hund heißt, denkt Jakob.

Weil Hund so still ist, steht Jakob auf, um nachzusehen. Sie liegt jetzt reglos im Korb, aber ihr Bauch hebt und senkt sich regelmäßig, sie schläft, erschöpft von der Würgerei. Jakob streicht ihr mit zwei Fingern über die Nasenwurzel und sagt »Alles wieder gut, Hund?« und nimmt die Badetücher weg. Am Tag, als Jakobs Mutter starb und Jakob vom Krankenhaus nach Hause kam, wich Hund nicht von seiner Seite. Wo immer Jakob saß, legte Hund den Kopf neben Jakobs Füße und fragte: Alles wieder gut, Jakob?

Yvette ist gestern Abend hier gewesen, denkt Jakob, ich bin vor dem Fernseher eingeschlafen, bevor sie heimfuhr, hat sie mich geweckt, kurz nach Mitternacht. Kann es sein, dass einem vergifteten Hund erst nach acht Stunden schlecht wird? Jakob schämt sich, dass er den Verdacht immer noch nicht losgeworden ist. »Hund, ich bin ein«, sagt Jakob. Er spricht mit Hund immer abgekürzt: »Willst du mit mir.« »Kratz nicht immer an.« »Ich muss mal deine.« »Es tut nicht.« »Komm, wir.«

Jakob denkt, das ist wohl Hunds letzter Herbst.

Im Januar liegt Schnee. Wenn Jakob Hund ins Freie lässt, schaut er ihr nach. Es kann sein, dass Hund ausrutscht. Einmal versucht Hund, einer Katze nachzurennen, kommt aber nur einige wenige Schritte weit, dann knicken die Hinterbeine ein. Das Aufstehen ist jetzt noch mühsamer. Ab und zu steigt Hund aufs Sofa, das durfte sie früher nur ausnahmsweise, wenn es donnerte oder wenn ein Feuerwerk knallte. Es scheint, dass Hund manchmal Angst verspürt vor etwas, das Jakob nicht sieht. Wenn Hund aufs Sofa steigt, bringt sie die Hinterbeine nur mit großer Anstrengung hoch, wie jemand, der aus dem Wasser ins Boot klettern muss, denkt Jakob. Hund, lange geht das nicht mehr so. Yvette findet, Hunde gehören nicht aufs Sofa. Jakob setzt sich neben Hund und sagt »Schau, wie es.« Die Flocken sind leicht und wirbeln manchmal hoch, es sieht aus, als würde die Welt neu gemixt, und die große Stille macht Jakob Herzklopfen. »Weißt du, Hund, ich hätte schon längst.«

Yvette will heiraten.

Sie sind immer noch nicht miteinander weggefahren.

Den ganzen Januar über liegt Schnee. Jakob, der immer morgens seine Kunden besucht, lässt das Auto daheim und nimmt den Bus. Er kommt später als sonst nach Hause und sitzt abends noch an der Arbeit. Wenn er die Türe öffnet, steht Hund schon da, wie immer, zur Begrüßung, ihr Schwanz klopft gegen die Wand, aber dann schwankt sie sofort zurück in ihren Korb. Jakob muss die Fenster öffnen, denn Hund riecht jetzt häufig auffallend schlecht, nach altem Körper. Jakob hat mal einen alten sehr reichen Amerikaner gekannt, der so roch, durch die teuren Kleider hindurch. Früher ist Hund, wenn Jakob nach Hause kam, einige Runden um den Tisch gerannt.

Yvette sagt »Jakob, bring Hundine endlich zum Tierarzt.« Wenn Jakob erwacht, lauscht er, ob er Hund hört. Er stellt sich vor, Hund liege tot im Korb oder daneben. Wenn Jakob kommt, wird sie den Kopf nicht heben. Jakob wird die Hand auf Hunds Bauch legen und merken, dass kein Atem mehr da ist. Jakob hofft, dass der tote Hund nicht offene Augen hat. Jakob denkt, hätte ich heute Zeit zum Weinen, zum Abschiednehmen? Nein, heute wärs schlecht.

Yvette ist jetzt ausgesprochen freundlich zu Hund. Manchmal bringt sie ihm etwas mit, eine Cervelatwurst oder ein weiches Brötchen. Sie sagt: »Na, Hund« und streicht ihm über den Hinterkopf. Jakob hört, wie sie sich gleich danach die Hände wäscht. Er vermutet, dass Yvette so freundlich ist, weil sie sich auf Hunds Tod freut. Hund ist immer noch schön, denkt Jakob, ihr sanftes Gesicht passt auf ein Kalenderblatt. Jakob streichelt es mit beiden Händen. »Wie wird das sein, Hund, wenn du.« Was sich in Jakobs Augen tut, ist nahezu ein Weinen.

Jeden Morgen um acht kommen jetzt die beiden Arbeiter, brechen in der Garage mit Pressluft zwei Fensteröffnungen heraus. Als Yvette damals am Abend im Thai-Restaurant plötzlich losheulte – »Du liebst mich gar nicht, Jakob, du willst mich gar nicht« –, versprach ihr Jakob, die Garage auszubauen. Yvette hielt sich die Hand vor die Augen, als sie weinte, und Jakob sah nur ihren im Schmerz zusammengepressten Mund. »Yvette«, sagte er hilflos. »Yvette, so hör doch.« Die Garage misst sechsunddreißig Quadratmeter, Jakob hat den neuen Boden bestellt, Schiffsparkett, und das Garagentor wird durch eine Glasfront ersetzt. Wenn die beiden Arbeiter kommen, versucht Hund zu bellen, bewegt aber nur die Kiefer, ein Ton kommt nicht mehr heraus. Jakob hat das Gefühl, dass Hund sich darüber wundert.

Die Garage soll der neue Wohnraum werden, und aus dem alten soll es zwei Zimmer geben, eins für Yvette, eins für Lucca, wobei Lucca nach wie vor vier Tage die Woche bei Yvettes Mutter wohnen wird. Jakob hat nichts gegen Lucca, im Gegenteil. Er mag Luccas präzise Fragen – »Warum essen wir die Fliegen nicht, die wir töten?« –, und er mag Luccas Gesicht, wenn er nicht glaubt, was man ihm sagt. Manchmal gibt ihm Lucca beim Spazieren die Hand, und das freut Jakob so, als wärs eine leidenschaftliche Umarmung. Lucca hat die gleichen dunklen, glanzlosen Löckchen wie Yvette, Jakob weiß nicht, warum ihn das rührt.

Oft wacht Jakob nun mitten in der Nacht auf, und sofort fängt er an zu horchen und schläft rasch wieder ein, nachdem er ein Geräusch von Hund gehört hat. So lange er nichts hört, stellt er sich vor, Hund sei tot, und er spielt alles durch, was dann zu tun ist. Jakob will nicht, dass Hund in einen Container mit Abfallfleisch und Kadavern geworfen wird, er wird das Hundekrematorium anrufen, nein, die Asche sollen sie ihm nicht liefern, das nicht. Er wird Hunds kalten Körper nochmals streicheln, wird Hund zudecken mit einem Laken. Und wenn sie abgeholt worden ist, wird er alles wegwerfen, was an Hund erinnert, Napf, Futter, Halsband, Leine, Fellbürste, Flohpulver, was noch, die Decke im Auto, die Hundebücher. Er wird die Sofabezüge abnehmen und in die Reinigung bringen und er wird sich betrinken, und damit hat sichs.

Mitte März ist die Garage fertig, die Heizung funktioniert, es riecht noch nach Farbe, nicht schlecht. Jakob hat einen Liegestuhl ans große Fenster gestellt und schaut aus dem Halbdunklen ins Halbdunkle, es schneit wieder, dicht und stetig. Jakob stellt sich vor, dass die Flocken nicht fallen, sondern stehen und dass er in seinem Stuhl hochfährt, höher und höher, die Flockentapete entlang. Es funktioniert ganz kurz, dann fallen die Flocken wieder. Im Bürohaus gegenüber gehen die letzten Lichter aus. Jakob hört, wie sich Hund im Nebenzimmer ein paarmal dreht und dann fallen lässt. Sie fällt aus dem Stehen schwer in den Korb, anders kann sie sich nicht mehr niederlegen. »Hund, du solltest sterben, ich bitte dich, stirb.« Am nächsten Abend kommt Yvette, sie freut sich, tanzt auf dem Schiffsparkett, später legt sie Jakobs Bettdecke auf den Boden und sie lieben sich, während die Heizkörper ticken, als wären Insekten darin. Yvette möchte nach Cornwall, im Mai.

Jakob hat sich nachts so oft vorgestellt, wie Hund am Morgen tot da liegt, dass er gar nicht damit rechnet, Hund könnte am helllichten Tag sterben. Schon unter der Türe, als er von seinen Kundenbesuchen nach Hause kommt, hört er das eigenartige Geräusch, glaubt kurz, die Arbeiter seien wieder da, um etwas abzuschleifen, dann lässt er die Mappe fallen und rennt. Das ist Hund! Hund schnauft um ihr Leben. Schwanz und Hinterbeine sind nass. »Ach Hund, Hund«, sagt Jakob, »und ich bin nicht.« Hund hat die Augen halb zu, das schnelle, schwere Schnaufen hört sich an wie Luft aus einer Pumpe. Jakob nimmt Hunds Kopf in beide Hände. »Gehst du fort?« Hund erwidert nichts. Ein Hinterbein ist verdreht. »Keine Angst«, sagt Jakob, »ich rufe gleich und dann.« Als Jakob zum Telefon geht, schaut ihm Hund nicht nach, aus diesen Augen, den großen, dunklen, glänzenden. Von der Seite sieht das Hundemaul aus, als ob es lache.

Jakob wirft alles weg, was ihn an Hund erinnert, nur der Urinfleck auf dem Teppich bleibt noch ein paar Tage sichtbar. Manchmal reibt Jakob Daumen und Zeigefinger aneinander und stellt sich vor, Hunds Ohr sei dazwischen. Yvette ist wütend, was Jakob versteht. Er hat nicht die richtigen Worte gefunden, um ihr zu sagen, dass sie nicht mehr kommen soll. »Du meinst, es ist aus?«, hat Yvette gesagt. »Du meinst, es ist aus?«, hat Yvette geschrien.

»Ja«, hat Jakob gesagt, »es tut mir.«