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»Verschwinden«

Der Anfang der Erzählung »Als Zett verschwand«

Dass einer einfach so verschwindet. Eben hatten sie noch seinen Flachmann im Kreis herumgereicht. Eben hatten sie noch sein Gewieher gehört. Und nun sollte er womöglich tot sein. Wahrscheinlich tot sein. Eben hatte noch jemand gesagt: »Dieses Ekel.« Nun sollte das Ekel tot sein.
Im Nachhinein ist man keineswegs klüger.
Eine Reise mit Unbekannten ist immer ein Wagnis.
Aber dass einer einfach so verschwindet.

Babette

kam als Letzte in die Hotelhalle. Die anderen saßen bereits, um einen Mosaiktisch gruppiert; schweigsame Schweizer. Die Reiseleiterin lächelte ihr kurz zu, es war bloß ein Zucken des Mundes, und fing sofort an zu sprechen. »Nun sind wir komplett«. Babette gab das Mundzucken zurück. Sie hatte sich nur gerade fünf Minuten verspätet. Sind wir hier in der Schule oder was? Die Reiseleiterin schlug vor, einander zu duzen, »Ich heiße Carla«. Babette hätte gerne geseufzt. Warum sollte sie den bleichen reglosen Riesen neben ihr duzen, er hatte Hände wie aufgehender Hefeteig. Oder die strichlippige Adrette auf der anderen Seite des Mosaiks. Sind wir hier in einer Selbsthilfegruppe oder was? Der Riese verschränkte langsam seine Hände, nun sahen sie aus, als würden sie für immer aneinanderkleben. »Und jeder soll sich doch bitte kurz vorstellen«, sagte die Reiseleiterin. Sie faltete die Karte auseinander und strich sie auf dem Tisch flach. Babette dachte, Tischtücher dieser Art sollten produziert werden, sie müssten bis auf den Boden hängen, das sähe gut aus und es wäre Konversationsstoff. Dann könnte noch passend zum Land gekocht werden, eine Tajine zum Marokkotuch und so weiter, sie wollte das gleich der Lifestyle-Redaktion vorschlagen, nach diesen zwei Ferienwochen. Der Riese räusperte sich. »Dann fang ich doch gleich mal an. Mein Name ist Max.« Er sei im Außendienst tätig, in der Versicherungsbranche, und sein Hobby sei die Pflanzenfotografie. Ein lautes Scheppern war zu hören, ein Tablett voller Gläser musste zu Boden gefallen sein. »So viel zu mir«, sagte Max und drehte Babette den Kopf zu, als sie ihn ansah. Mutig, dachte Babette, und bat die Teighände um Verzeihung. »Ich bin«, fing sie an und hörte gleich wieder auf, denn die Frau auf der anderen Seite des Riesen sprach auch, mit gut geölter Stimme. Sie heiße Fili, eigentlich Filippa, aber das sei zu lang, dafür sei ihr linkes Bein etwas zu kurz, daher ihr leichtes Hinken. Es blieb still, der Mann neben Filippa und alle anderen blickten auf ihr Bein und warteten, dass die geölte Stimme weitermachte. »Ich kann stundenlang laufen«, sagte Filippa, eigentlich sang sie es. »Einen Beruf habe ich nicht«, sang sie. »Besser keinen als den falschen«, sagte der Riese, und Babette mochte ihn bereits ein bisschen. Die Reiseleiterin zeigte ihr Zucklächeln. »Pavel Rutschmann, bitte«, sagte sie. Das war der Mann neben Filippa, er war Babette schon im Flugzeug angenehm aufgefallen und sie hoffte, dass die Schwarzhaarige nicht zu Herrn Rutschmann gehörte, und freute sich, als er sagte, er heiße Pavel, nun gefiel er ihr erst recht. Pavel sagte, er sei hier, weil ihn die Wikinger interessierten, schon lange, schon als Kind habe er Wikinger gespielt, noch vor Hägars Zeiten. Babette wusste nicht, wie man Wikinger spielt. Mehr sagte Pavel nicht, Lehrer vielleicht, dachte Babette. Die Schwarzhaarige, Alma, gehörte nicht zu Pavel, sondern zu Robert mit der Karomütze, sie waren verheiratet und glichen einander. »Zwei Kinder«, sagte Robert, »zwei Meerschweine«, sagte Alma. Die Adrette mit dem schmalen Mund hieß Mari ohne e, Chefsekretärin, Porzellansammlerin. Babette versuchte, die Namen zu wiederholen, angefangen beim Riesen Max. Den von der Karomütze hatte sie bereits vergessen. Nun war noch der Blondgefärbte an der Reihe. »Einfach Zett«, sagte er. »Zett?«, fragte die Reiseleiterin. »Zett wie Zacharias«, sagte Zett. »Sollte jemand Zacharias sagen, erwürge ich ihn«, sagte Zett und lachte keckernd. »Import, Export«, sagte Zett. »Sechs Jahre Hongkong.« Er sah aus wie einer, der grundlos Sonnenbrillen trägt. Du bist nicht mein Fall, dachte Babette, und dann stellte sie sich vor. »Babette, zweiundvierzig, Redakteurin, und ich mag schlechtes Wetter.« Der Riese lächelte.

 

Mari

rieb sich die Haare trocken. Als es klopfte, erschrak sie. Mit nassen Haaren sah sie unvorteilhaft aus. Erst wollte sie die Tür gar nicht öffnen, aber das Radio lief und war draußen sicher zu hören. Vielleicht war es ja nur das Zimmermädchen. Mari öffnete. Ohne das Gesicht zu sehen, wusste sie, das war der Große, er trug diese rostrote Strickweste mit Ethnomuster – Max. Er streckte ihr ein Buch entgegen. Mari griff sich an den Kopf und lockerte die feuchten Haare. Musste sie ihn hereinbitten? Tat man das? »Das erwähnte Buch«, sagte Max, »ich dachte …« Sie trat beiseite, er schob sich durch den Türrahmen, und als sie das Buch entgegennahm, sah sie, dass seine Nägel etwas zu lang und nicht ganz sauber waren. »Das ist sehr nett«, sagte sie. Max tat ein paar lange Schritte ans Fenster und beugte sich hinaus. »Schöne Aussicht.« Mari prüfte rasch im Spiegel über der Kommode ihre Zähne, sie hatte vorhin von ihrem Fitnessgranulat gegessen, das machte den Speichel grünlich. »Mein Zimmer geht auf die Straße«, sagte Max. Das Buch war ein Pflanzenbestimmungsbuch, ziemlich abgegriffen, und Mari suchte Interesse vorzutäuschen, wie vorhin in der Hotelhalle. Ich mag Pflanzen auch sehr, hatte sie gesagt. Weil der einzige Stuhl im Zimmer mit ihren Kleidern überhäuft war, tat sie, als setze sie sich auf die Bettkante, aber eigentlich stand sie, die Kante war zu hoch. »Aha«, sagte Mari, und sie blätterte, Schlitzblattwegerich, und ärgerte sich, nun sollte sie sich dafür begeistern. Selber schuld, dachte sie. Immer will ich gefallen. Greiskraut, Schmallippige Sumpfwurz. »Schön«, sagte Marie, »sehr präzise, die Darstellungen.« »Ich lass es Ihnen – dir – hier bis morgen«, sagte der Große. »Ich drehe draußen noch eine Runde.« Dann geh endlich, dachte Mari, »viel Spaß«, sagte sie, »und vielen Dank, ich trage auch Sorge dazu«, sagte sie, zu deinem speckigen Buch, dachte sie. Der Große schloss die Tür so leise, als wäre Mari eine Kranke. Bist du sicher, hatte ihre Mutter gesagt, dass du in so eine Gruppe passt?

 

Pavel

sah den Hund und blieb stehen. Der Hund lag etwa zwanzig Meter weiter vorne, er lag ausgestreckt auf dem Pfad und rührte sich nicht. Pavel blickte zurück. Noch war keiner der Gruppe zu sehen. Der Pfad verschwand in einer Biegung hinter der verfallenen Hütte. Als Erste würde wahrscheinlich die Reiseleiterin auftauchen und dicht hinter ihr die Mari ohne e. Das würde noch eine Weile dauern. Er war ein langes Stück beinahe gerannt und hatte die anderen weit hinter sich gelassen. Wie ein Trichter hatte er die Schönheit des Morgens aufgefangen, jeder Schritt ein Bild, eine menschenleere Landschaft, silbrig behaucht. Erst der Hund ließ ihn innehalten. Pavel pfiff, aber der Hund blieb reglos. Langsam ging Pavel näher. Er sah den mit Kacke verschmierten Schwanz, die rosa Zitzen im weißen Fell, die offenen Augen, der Hund war tot. Als er mit dem Schuh den Hundekopf anhob, huschte etwas weg und verschwand in den Steinen. Kleine Hundefrau, dachte Pavel und sagte laut: »Das wars dann.« Vielleicht sollte er den Hund aus dem Weg räumen, um den anderen den Anblick zu ersparen, aber er mochte ihn nicht anfassen, und mit den Schuhen wollte er ihn nicht beiseite schieben, das kam ihm zu grob vor. Er drehte sich um und ging ein Stück zurück bis zur Biegung, hier wollte er warten. Er versuchte sich vorzustellen, wie die strenge Carla auf den Hund reagierte. Nicht anfassen, das wird sie sagen, dachte Pavel. Er sah sie jetzt, sie zeigte auf die so spät noch blühende Kirsche, die Pavel auch gesehen hatte, und Mari schaute an der Kirsche hoch. In weitem Abstand folgte der große Max, dann das Ehepaar und ganz weit hinten der, der sich Zett nannte, ein eigenartiger Mensch. Wer fehlte noch? Zwei Frauen, die kleine und die runde. Erst jetzt, als sich Pavel auf einen alten Eimer setzte, merkte er, dass seine Beine plötzlich schwer waren. Um ein Hundegewicht schwerer, dachte Pavel. Er wollte nicht mehr zuvorderst laufen. Ihr werdet auch mal irgendwo tot liegen, sagte er zu seinen Beinen, auf einem Waldboden, auf einer Bettdecke oder auf einer verdreckten, nassen Treppe. Er zwang sich manchmal, an den Tod zu denken. Als Pavel nach hinten schaute, meinte er, die Hundefrau zu sehen, wie sie trabend in einer grünen Mulde verschwand.

 

Fili

trat zur Seite, um Babette vorbei zu lassen. »Ich bin am liebsten die Letzte«, sagte sie, als Babette zögerte. »Wenn das so ist«, sagte Babette und überholte. Zuhinterst konnte Fili vergessen, dass sie hinkte. Lief sie vor jemandem, war das Hinken stets da. Sie hatte dann das unangenehme Gefühl, die Harmonie der Person hinter sich zu stören. Das war vielleicht Unsinn, aber sie wurde das Gefühl nicht los. Auf steilen Kraxelpfaden, wo jeder Schritt ein Abtasten und eine neue Entscheidung war, dachte sie nicht ans Hinken. Aber auf Wegen wie diesem, die blankgefegt und offen auf den Horizont zuliefen, wollte sie zuhinterst sein, sie kämpfte darum. Sie lernte die Leute von hinten kennen, sie schätzte sie schneller ein als von vorne, sofort registrierte sie schüchterne Schultern, selbstbewusste Gesäße, starke Nacken oder schwingende Arme, die den Takt nicht fanden. Es gab Hinterteile, die ihr zulachten, es gab freundliche Waden. Und es gab Rücken, die konnten so zugekniffen sein wie ein Mund oder so streng wie eine Stirnfalte. Diese Babette vor ihr schwang ihre breiten Hüften, als wäre da Musik zu hören und nicht nur das dumpfe Wellenklatschen in der Tiefe der Klippen und die jammrigen Rufe der Möwen. Diese Babette pflückte links und rechts etwas Gutes aus der Luft. Wahrscheinlich findet sie sich zu dick, dachte Fili, sonst hätte sie zum Wandern etwas anderes angezogen als eine seidene Schlabberhose. Das Morgenrosa verblasste, der gelbe Rand des Himmels verschwand im Meer, eine unbefleckte Bläue tat sich auf. Diese Babette vor ihr hatte gesagt, sie möge schlechtes Wetter und nun das, ha. Würde jemand jetzt singen, dachte Fili, ich würde gleich mitsingen. Wind rupfte an Babettes Schlabberhose und fegte Blüten von einem Kirschbaum. Babette drehte den Kopf und sagte: »Da ist was, siehst du, da vorne.« Fili sah, dass jemand am Boden kniete, das war Max, die anderen standen in einiger Entfernung. Babette lief, Fili holte auf. Auf dem Weg lag ein Hund. »Tot, töter, am tötesten«, sagte Zett. Der Hund sah aus, als ob er lachte. Seine Augen waren offen – blau, mit einem milchigen Schleier – und sein armseliges Schwänzchen war verschmutzt. »Kot, Köter, am Kötesten«, sagte Zett. »Sei doch still«, schrie Pavel. »Nicht anfassen«, sagte die Reiseleiterin.

 

»Seine Augen waren offen« – Babette, damals

Das Bild des Sterbezimmers ist nie ganz gleich. Jetzt steht plötzlich ein Ventilator auf dem Tisch und rauscht. War es Sommer? Babette, sagte Mom, zieh den Vorhang zu, nur ein Stück. Sonst hat Vater Sonne im Gesicht. Um Platz für das Krankenbett zu schaffen, hat man die Polstermöbel aneinandergeschoben. Ich kann von Möbel zu Möbel klettern, ohne den Boden zu berühren. Boden berühren bringt Unglück. Unglück heißt, Vater stirbt. Ich sehe ihn durchs Gitter. Man hat ihn eingesperrt, damit er nicht aus dem Bett steigt und umsinkt. Ich kann den Arm durchs Gitter stecken und seinen Arm berühren. Er fühlt sich an wie ein Ast, von dem man die Rinde abgeklaubt hat, glatt, kühl. Bevor man dieses Krankenbett gebracht und hier in die Stube gerollt hat, konnte Vater noch gehen. Manchmal hat er plötzlich in der Küche gestanden und nicht gewusst, wo er ist. Babette, iss weiter. Manchmal hat er sein Geschlechtsteil aus der fleckigen Pijamahose geholt und Wasser gelassen, in den Schirmständer, in die Bodenvase, in die Ecke. Einmal habe ich gesehen, wie er in einer gelben Lache stand und lächelte. Jetzt, wo das Bett in der Stube steht, ist alles gut. Er ist eingesperrt. Ich bringe meine Freundin Rita nicht nach Hause. Ich will nicht, dass sie meinen Vater sieht. Er lächelt so, dass mir der Kopf einstürzt. Babette, mach den Vorhang auf, nein, nicht ganz, sonst hat er Sonne im Gesicht. Und dann macht Mom dieses Geräusch, ich weiß noch nicht, dass es ein Schluchzer ist. Mom öffnet das Gitter und packt Vater an den Schultern. Er schaut an die Decke. Er ist gestorben, schluchzt Mom. Aber seine Augen sind doch offen. Mom streicht ihm zwei Mal übers Gesicht, jetzt sind die Augen zu. Und jetzt kommt die Sonne doch noch bis zu Vaters Kopf. Aber sie blendet ihn nicht mehr. Die Augen sind zu.

 

Max

war ziemlich sicher: Was er gerade aus dem Augenwinkel gesehen hatte, war eine Kerry Lilie. Ein kleines Ding, nicht auffällig schön, aber selten. Weil er sich nicht getraute, den redenden Zett neben sich zu unterbrechen, war er an der Lilie vorbeigegangen. Die Kamera hing griffbereit am Riemen, sogar das richtige Objektiv wäre dran gewesen, aber er hatte nicht angehalten. Zett machte ihn unsicher, er war einer, so vermutete Max, der von einer Sekunde auf die andere die Laune wechselte, verstummte oder explodierte. Max hatte keinen Anlass zu solch einer Vermutung. Zett redete ganz locker und freundlich, war an seiner Seite aufgetaucht und hatte ohne Umstände zu reden angefangen, so als wäre Max ein alter Bekannter. Die Kerry Lilie, eine Hand voll weißer Blütchen mit roten Adern, hatte grasartige Blätter, schmal und lang, die hatte er gesehen, es musste eine Kerry Lilie sein, er konnte immer noch umkehren und eine Aufnahme machen, was sollte Zett dagegen haben. Aber Max ging weiter und hörte zu. Zett sprach über Steinkreise. »Unsere Frau Carla ist schlecht informiert«, sagte er. »Sie hat wohl noch nie von Außerirdischen gehört, unsere Frau Carla. Sie versteht von allem gar nichts.« Das klang ziemlich giftig. »Ich verstehe auch nichts von Außerirdischen«, sagte Max und schaute Zett ins Gesicht, und Zett schaute zurück. Etwas Höhnisches war in Zetts Gesicht, und Max sah erst jetzt, dass das Blau in Zetts Augen unnatürlich hell war. »Schon mal von Frauen gehört, die mit Außerirdischen geschlechtsverkehren, bumsfallera?«, fragte Zett. »Sie kommen immer noch, die von draußen«, sagte er, »sie kommen immer noch. Und sie hinterlassen ihre Kreise, auch heute.« Max bückte sich und gab vor, den Schuh zu binden. Er wartete, bis zwischen Zett und ihm ein Abstand war, der nicht selbstverständlich aufzuholen war. Zett hatte zu pfeifen angefangen. Sogar dieses Pfeifen machte Max beklommen. Er nahm sich vor, Zett in Zukunft auszuweichen. Es schien ihm plötzlich möglich, dass Zett vorhin dem toten Hund absichtlich auf den Kopf getreten war. Einer nach dem anderen war über den Hund hinweggestiegen, nur Zett hatte seinen schwarzen Halbschuh auf die immer noch glänzende schwarze Hundenase gedrückt.

 

»Dieses Pfeifen« – Max, damals

Ich habe sie nicht gehört, das Radio war an. Sie sind von hinten gekommen, übers Gras. Aber pass auf, Max, hat Erwin gesagt, als ich gefragt habe, ob ich das Radio haben darf. Wenn was ist, pfeif. Dann hat er seine Melodie gepfiffen, und ich hab sie nachgepfiffen. Erwin hat sie mich gelehrt. Er pfeift wie ein großer aufgeregter Vogel. Das Kofferradio ist neu und rot, Mittel-, Lang- und Kurzwelle. Es ist Sommer, die Kastanienblüten fallen, der Kiesplatz ist rot und weiß übersät, ich habe im Radio eine Stimme gefunden, die mich weich überspült. Da oben, im ersten Stock, wo das Fenster offen ist, da ist Erwin, mein Bruder Erwin, er hat gesagt, pass auf, Max. Ich passe immer auf. Jetzt greifen die Hände über meine Schulter und packen das Radio. Aber ich halte es fest – oben im zweiten Stock, wo das Fenster offen ist, da ist Erwin, wenn was ist, pfeif, hat er gesagt. Die Hände zerren nicht mehr am Radio, die weiche Stimme singt immer noch, jetzt stehen die beiden vor mir, den einen habe ich auch schon gesehen, er knickt die Antenne, lass los, sagt er, gib her. Ich muss pfeifen, aber es geht nicht, es kommt nur Luft, meine Lippen sind wie Hartgummi und mein Hals ist voll heißer Angst, es geht nicht, den einen nennen sie Schläger, den anderen habe ich noch nie gesehen. Sie laufen mit dem Radio weg, nicht besonders schnell. Warum hast du nicht gepfiffen, Max, wird Erwin fragen, er hat sich das Radio mit Treppenhausputzen verdient, er wird nicht mehr pfeifen, ich auch nicht, ich kann es nicht mehr hören, wenn jemand pfeift.

 

Mari

fand es schade, dass das Ehepaar so plötzlich abgereist war. Sie hatte sich mit der Frau bereits ein bisschen angefreundet. Es gefiel ihr, wie Alma sich zurechtmachte und Wert auf gute Qualität legte – Kaschmirjacke, kanadische Trekkinghose – und beide waren sie an Opern interessiert. Almas Mutter liege mit einem Hirnschlag im Spital, sagte die Reiseleiterin beim Abendessen. Das Ehepaar sei gleich nach dem Anruf mit einem Taxi zum Flughafen gefahren. Mari war beeindruckt. Zum Flughafen waren es mindestens siebzig Meilen, und die Taxipreise waren horrend. Sie fing an zu rechnen. »Was rechnest du?«, fragte Zett, der sich neben sie gesetzt hatte, obwohl sie das eigentlich vermeiden wollte. »Warum sollte ich rechnen?«, fragte Mari zurück. »Weil du die Lippen so bewegst wie ein Kellner, der einkassiert.« »Ach nichts«, sagte Mari. Sie mochte es nicht, dass man sie mit einem Kellner verglich. Sie war immerhin Chefsekretärin und hatte zwei Sachbearbeiterinnen unter sich. Und sie kam aus gutem Haus. Ihre Mutter war immerhin eine de Grignan. »Was gibt es denn Gutes?«, fragte sie und griff nach der Speisekarte. »Es gibt Hund«, sagte Zett. Mari tat, als hätte sie nichts gehört. »Es gibt Hund, frisch vom Land, heute gefunden.« Mari las krampfhaft die Speisekarte. »Magst du Hund vielleicht nicht?«, fragte Zett. »Ich habe immer Hund gegessen, damals in Hongkong. Wenn man ihn vor dem Schlachten prügelt, schmeckt er extra zart, das machen die Stresshormone. Oha, Achtung, Frau Carla hält eine Rede.« Erleichtert rückte sich Mari neu zurecht. Sie lehnte sich so weit nach hinten, dass sie Zetts Gesicht nicht mehr sehen musste. Rechts von ihr saß Max, er notierte, was die Reiseleiterin sagte. Frühstück war morgen schon um sieben. »Hund mit Ei«, sagt Zett und drehte sich zu Mari um. Die Reiseleiterin bat um Pünktlichkeit. Der morgige Tag würde anstrengend werden. Sechs Stunden reine Wanderzeit. »Bitte Wind- und Regenschutz nicht vergessen.« Die Besichtigung des Steinkreises, um die Mittagszeit, werde unter der Führung des ortsansäßigen Lehrers stattfinden. »Ortsansäßig«, wiederholte Zett zischend und drehte sich wieder zu Mari um. Rasch wandte sie sich Max zu. Jetzt kam die Suppe. Wehe, Zett sagt Hundesuppe, dachte Mari. Dann stehe ich auf. »Das machen sie auch in Hongkong«, sagte Zett, »die Pfoten auskochen.« Mari blieb sitzen. Max schlürfte, Zett nicht.

 

Max

schenkte sich den dritten Jameson ein und senkte sein Gesicht übers Glas. So müsste meine Frau riechen, nach Heu und Kerosin und besonntem Holz.Auch nach Honig und nach Asphalt, soeben noch warm und nun verregnet. Aber wo sollte er diese Frau finden? Wo sollte er überhaupt eine Frau finden? In dieser Reisegruppe gab es keine für ihn. Pavel trank Bier, Zett auch. An der Hotelbar war Selbstbedienung. In ein abgegriffenes Heft waren Name, Zimmernummer und die genehmigten Drinks einzutragen. Die Schnapsgläser hatten eine rote Markierung. Ach, wie ehrlich, hatte Zett gesagt, als Max sein erstes Glas genau bis zur Markierung füllte. Beim zweiten und dritten Mal sah er ihn nur noch an, leicht spöttisch, und Max staunte wieder über diese unnatürlich hellen Augen. »Ich bin gar nicht ehrlich«, sagte Max und merkte, dass er bereits beduselt war und dass das Reden von selbst kam. Warum er den beiden alles erzählte von den neunzehntausend Euros, die er abgezweigt und nach dreiviertel Jahren wieder in die Firma geschmuggelt hatte – Max wusste es nicht. »Niemand hat was mitgekriegt, schon gar nicht der Chef«, sagte Max. »Und was kriege ich«, fragte Zett, »wenn ich das für mich behalte?« Max erschrak. Er schenkte sich wieder ein. Warum sprach Pavel plötzlich so leise? Max gab sich Mühe, genau hinzuhören. »Wollt ihr noch ein Geständnis?«, fragte Pavel. »Ich habe mal eine Frau angefahren und bin abgehauen und« – sagte er noch leiser – »ich weiß, dass die Frau im Rollstuhl sitzt. Und jetzt«, schrie Pavel und packte Zett am Arm, »erpress mich, du Blödmann! Erpress mich«, schrie er, »hörst du?« Zett riss sich los aus Pavels Griff, dabei gingen ein paar Flaschen zu Boden. »Gute Nacht«, sagte Zett und ging. Max bückte sich, hob den Schreibstift auf, schwankte und trug den vierten Jameson ins Heft ein. Als er aufsah, war auch Pavel verschwunden.

 

Fili

schlief schlecht. Immer wieder erwachte sie und hatte sofort dieses ekelhafte Alleingefühl. Die Wände wurden dann wattig und kamen näher. Sie musste durch den Mund atmen, denn durch die Nase ging die Luft schwer und roch wie immer nach dem selben Etwas, von dem Fili nicht wusste, was es war. Vielleicht ist es mein eigenes Hirn. Sie sprach ihr Gebet, das sie vor vielen Jahren dem Vaterunser nachgestrickt hatte. Filippessa, die du bist am Leben, geliebet werde dein Name … Die Wände wichen leicht zurück, sie hörte ein Motorrad knattern, es musste etwa zwei Uhr sein. … dein Wille geschehe, hier und jetzt und auch in Zukunft. Gib mir heute meinen täglichen Mut … Sie stand auf, zog ihren Anorak an und stellte sich ans offene Fenster, es war kalt, der Himmel war klar, mit Mond, die Bäume warfen Schatten. Als sie sich hinausbeugte, sah sie auf dem Balkon unter sich eine Gestalt. Sie stand dem Garten zugewandt bewegungslos da, mit schräg aufgestreckten Armen, als würde sie gleich die aufgehende Sonne begrüßen. Langsam neigte sich Fili zurück, sie wollte nicht, dass der seltsame Mensch sie bemerkte. Und doch blickte er zu ihr hoch, eine helle Gesichtsscheibe in der Dunkelheit. Fili erkannte den Mann nicht. War es ein Mann? Leise schloss sie das Fenster und legte sich im Anorak wieder ins Bett. Gib mir heute meinen täglichen Mut und vergib mir meine Schuld, doch vergib niemals meinen Schuldigern …

Am Morgen war der Himmel bedeckt, die Feuchtigkeit hing wie eine schlaffe Flagge vor den Fenstern. »Man braucht nur laut zu reden, dann fängt es an zu regnen«, sagte Pavel, der neben Fili die Treppe runterging zum Frühstück.

 

Babette

sah durchs Autofenster wie Pavel aus dem Hotel kam und sich nach dem Bus umsah. Aber die Reiseleiterin hatte für die verbliebenen sechs Reisegäste einen kleineren Wagen organisiert, es war ein schwarzer Van mit der Aufschrift Kittiwake. Außer dem Fahrer und Babette war noch niemand eingestiegen. Sie saß zuhinterst am Fenster und beobachtete Pavel und ihre eigene Aufregung. Ihre Hände waren so ineinander geklammert, dass sie fast schmerzten. Pavel fingerte lange am Reißverschluss seiner Jacke, anscheinend war etwas verklemmt. Er blickte erst auf, als der Fahrer den Motor anließ, kam dann auf den Wagen zu, sah Babette hinter dem Fenster und stieg ein. »Good morning«, sagte er. Babette presste ihre Finger noch enger zusammen. Ließ man den Platz neben dem Fahrer für die Reiseleiterin frei, blieben noch fünf Sitze, drei vor ihr und zwei neben ihr, und Pavel ließ sich ohne zu zögern direkt neben sie fallen, ihre Anoraks raschelten. Babette lockerte ihre Finger. Nun müsste ich etwas sagen, dachte Babette, und gleich darauf: wieso eigentlich? Pavel sagte auch nichts. Nun kamen auch die anderen, zum Schluss schob sich der Riese Max herein und setzte sich mit Schwung auf die andere Seite von Pavel. Dabei schob er Pavel gegen Babette, gerade so viel, dass deren Oberschenkel nun Stoff an Stoff aneinanderlagen. Und als der Fahrer in die erste Kurve bog, spürte Babette an ihrem weichen Fleisch Pavels Bein, es war hart und warm, und es blieb da. »Was war eigentlich los, gestern in der Bar?«, fragte Babette. »Nichts«, antwortete Pavel. »Jemand hat geschrien«, sagte Babette. »Das war ich«, sagte Pavel. »Und warum?« »Wegen des Arschlochs. Entschuldige.« Pavel lächelte sie an. Sein breiter Mund hing schief im Gesicht, verrutscht irgendwie. Und das gefiel Babette. Das gefällt mir, lächelte sie zurück. »Kenn ich es?«, fragte sie. »Was«, fragte Pavel, »ach so. Ja es sitzt genau vor mir.« Wieder lächelte Pavel wunderbar schief. »Mir hat es nichts getan«, sagte Babette. Pavel schwieg. Der Van fuhr bergauf. Es war eine kurvenreiche Straße.