22. Januar 2025
Seit gestern besitze (wortwörtlich) ich einen richtigen Lesesessel - aus weißem Korbgeflecht, mit hellen Polstern, hohem Rücken, weit geschwungenen Armlehnen, perfekt. Ich habe immer am Tisch oder im Bett gelesen, aber inzwischen ist der Tisch zu hart und das Bett zu weich geworden. Meine erste Lektüre im neuen Sessel ist ein schmales Reclambändchen: »Tractatus Logico-Philosophicus« von Ludwig Wittgenstein. Der erste Satz lautet: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Der zweite Satz lautet: »Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.« Wie immer kann ich es mir nicht verkneifen, rasch einen Blick auf die hinterste Seite zu werfen. Der letzte Satz lautet: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Das klingt gut. Ich hole mir einen Kaffee, um mich dann an den dritten Satz machen, aber das geht nicht mehr. Der Sessel ist von den beiden Katzen belegt, wie Yin und Yang liegen sie aneinander und sind die Gesamtheit der Tatsachen.
21. Januar 2025
Seltsam: Das Wort Mut hat keinen Plural. Dabei gibt es doch so viele Müter. Etwa den, am Bungee-Seil in die Tiefe zu springen. Oder den, wenn ein Ja erwartet wird, Nein zu sagen. Oder den, dem befreundeten Autor mitzuteilen, sein neues Buch sei misslungen. Oder den, als Sechsjährige abends in den dunklen Keller zu steigen, um für Vater eine Weinflasche zu holen. Oder den, sich aus der Umklammerung eines Angreifers durch einen Biss in seine Hand zu befreien. Oder den, als Frau Bischöfin im Gottesdienst einen soeben gekrönten US-Präsidenten zu bitten, er solle sich der Menschen erbarmen, die jetzt Angst haben. Nämlich vor ihm und seinen ungeheuerlichen Maßnahmen. Mariann Budde heißt sie, die Mutige.
7.Januar 2025
Meine freundliche Coiffeuse – 28, langes Blondhaar, Zürcher Dialekt – hat sich in einen Tamilen verliebt, ist enttäuscht worden, hat sich bald darauf in einen Pakistani verliebt und ist nun mit ihm in eine gemeinsame Wohnung gezogen, und weil er beim Döner bis Mitternacht arbeitet, hat sie sich zum Streicheln zwei Zwerghasen gekauft, und einer von ihnen hat am Boden Schokowaffeln gefunden und gefressen und sich danach halbtotgekotzt. Das alles erfahre ich, während mein Haar kürzer wird. Der Pakistani sieht nicht nur gut aus, er ist auch gescheit, kann jedoch weder lesen noch schreiben, auch nicht in seiner eigenen Sprache. Text auf dem Handy wandelt er in Ton um. Sie lässt ihm gerne ein Bad einlaufen, er hat einen Gebetsteppich, und sie wollen mal Kinder haben. Das alles erfahre ich, während mein Haar geföhnt wird. Dann gehe ich leicht verstört und leicht verschönert nach Hause.
2. Januar 2025
Das Jahr ist neu, und wie zur Feier
steht auf der Wiese, nah am Weiher,
ein stolzer Vogel, nein, kein Geier,
sondern ein grauer, schlanker Reiher,
packt eine Maus, der schlaue Meier,
und ist kurz etwas sorgenfreier.
(Es war deutlich zu sehen, wie die lebende Maus durch den langen Reiherhals nach unten ruckelte, und kurz danach noch eine zweite. Vielleicht haben sich die beiden in der dunklen Tiefe noch eine Weile unterhalten (etwa über die Kürze oder Länge eines Jahrs und eines Lebens).