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»Watalappan«, Kurzgeschichte

»Watalappan«, Kurzgeschichte

       Der Mann kippt das Glas und leert den Wein ins Gebüsch. »Das kann man nicht trinken«. Es ist Professor Kloth, Mathematiker, und die Frau, die ihm zusieht, ist die Journalistin vom Abendblatt, Hanne Franzen. Die Gastgeberin hat beim Apero in einer kleinen Ansprache alle Gäste mit Namen vorgestellt. Nun stehen sie herum und beäugen sich. »Dem Gebüsch schadet es nicht«, sagt Kloth. »Mir auch nicht«, sagt Hanne Franzen und trinkt in einem Zug aus.»Prost.«

Jemand raucht. Er hat sein Jackett ausgezogen und über einen Stuhl geworfen. Hinten hängt ihm das Hemd aus der Hose. Das ist der Vater der Gastgeberin. Sie trägt das Jackett ins Haus. Der als Aktionskünstler vorgestellte Jungmann Arno Lanz wedelt mit einer Hand den Rauch zu der als Pfarrerin vorgestellten Frau Brick. Die Schusters – ein Ärztepaar – lachen lautlos.

Hanne Franzen hebt das leere Glas und ruft »Auf die Helblings! Auf ein langes Leben in ihrem wunderbaren neuen Zuhause!«

Das wunderbare neue Zuhause von Rita und Ralf Helbling ist ein flacher Bungalow aus den Sechzigern, beige mit braunen Jalousien und einer Buchsbaumhecke rundum. Zwei große Birken rauschen im Wind ein bisschen wie Meer. »Schöne Bäume haben Sie da«, sagt Frau Kloth zu Ralf Helbling. »Birken«, sagt er. »Ach«, sagt Frau Kloth, »ich liebe Birken.« »Ich hätte gerne eine Zypresse«, sagt Helbling. »Aber meine Frau ist dagegen. Zu wenig einheimisch. Da ist sie strikt. Dabei bin ich auch nicht von da. Haha. Import aus der Schweiz. »Ach«, sagt Frau Kloth, »ich liebe die Schweiz.«

 

Rita Helbling ruft zum Essen, zu einer festlich gedeckten ovalen Tafel, alles in Burgunderrot, sogar die Kerzen. Sie stellt den Koch vor, Akil aus Sri Lanka, »ein Störkoch«, sagt sie, aber er stört nicht.« Sie und Ehemann Ralf lachen als einzige. »Ich wolle schon immer mal nach Sri Lanka, es soll da wunderbare Strände geben«, sagt Frau Schuster. »Aber das darf man ja nun nicht mehr, von wegen Klimawandel und Flugscham.« »Ach Gottchen«, sagt Frau Kloth, geht um den Tisch und studiert die Tischkärtchen. Helmut Kloth. Ruth Brick. Ralf Helbling. Hanne Franzen. Rita Helbling. Amadeus. Arno Lanz. Helga Schuster. Heinz Schuster. Irma Kloth. Sie weiß nicht, ob sie zufrieden sein soll mit dieser Tischordnung. Hanne Franzen hat sozusagen den Ehrenplatz zwischen dem Gastgeberpaar. Was sollʼs.

»Ein ovaler Tisch ist einfach ideal für eine größere Runde«, sagt Frau Kloth, um etwas Nettes von sich zu geben, und Rita Helbling sagt »Na ja, fürs Abendmahl wär er zu klein.« »Apropos Abendmahl, sagt Arno Lanz, er komme gerade von Mailand zurück und sei einmal mehr überwältigt von da Vinci, diese Perspektive in seinem Abendmahl, diese Spannung, überhaupt Italien, ein großartiges Land. »Das findet die ganze Migrantenmasse auch«, sagt Herr Schuster, »die schleppt ihre Tuberkulosen am liebsten nach Lampedusa.« »Ach«, sagt Frau Schuster, »sei nicht so bissig.« Der Vater von Rita Helbling bindet sich die Serviette um. Es gibt sri-lankische Spinatsuppe, »sieht aus wie Entengrütze«, sagt er, »was ist das Weiße in der Mitte?« Das sei dicke Kokosmilch, flüstert Rita Helbling, die zu seiner Linken sitzt, und er habe bereits gekleckert. »Schmeckt«, sagt Herr Schuster. »Ja, wunderbar«, sagt Frau Schuster, »man lernt immer wieder was.« »Aber unsere deutsche Küche ist auch nicht zu verachten«, sagt Professor Kloth, »so eine krosse Schweinswurst mit nichts dran ist auch schön.« »Also Schwein kommt mir nicht mehr auf den Tisch«, sagt Frau Brick, »diese armen Tiere, diese Schlachthofware, ich bitte Sie.«

Die Panoramafenster sind weit geöffnet, wenn niemand spricht, hört man das Rauschen des Windes, und ein zartsüßer Duft kommt herein. »Haben Sie Lavendel im Garten?«, fragt Frau Brick. »Haben wir Lavendel, Rita?«, sagt Ralf Helbling. »Nein«, lacht sie, »das ist das Labor der Aroma AG, nicht weit von hier.« »Jetzt lacht auch Hanne Franzen, sie hat Grünes zwischen den Zähnen, und Herr Schuster starrt sie etwas zu lange an. »Aha«, sagt Rita Helbling, als Akil, der Koch, eintritt, »jetzt kommt der Hauptgang.« »Es gibt Schweinebauch, gegrillt«, sagt Akil, »an Knoblauch-Ingwer-Chilipaste mit Limettensaft, dazu Rotis, also Fladenbrot.« »Der kann ja richtig deutsch«, sagt Frau Schuster leise zu ihrem Mann, und Arno Lanz sagt »Haben Sie gehört, Frau Brick? Schweinebauch.« »Alles frisch vom Markt«, sagt Rita Helbling. Sie kaufe nur Frisches aus der Region, Öko. »Limetten aus der Region«, murmelt Herr Kloth, und Arno Lanz sagt »Es lebe das Ökoschwein, zum Glück ist es tot.« Ralf Helbling geht gemessenen Schritts um den Tisch und schenkt ein, einen Amarone, 2016. »Ein Zweitausendelfer wäre besser, aber der geht auch«, sagt Kloth laut genug, dass es Hanne Franzen hört. »Hat die Dörrpflaumennote im Abgang.« Helbling hebt das Glas, sagt, er freue sich als neu Zugezogener über die schönen neuen Bekanntschaften, und ob man sich nicht duzen wolle. Es stellt sich heraus, dass Frau Helblings Vater Amadeus heißt, alle murmeln Freundliches.

Ralf Helbling findet, der Lavendelgeruch sei jetzt doch etwas gar deutlich. »Ach wo, Ralf«, sagt Frau Brick, also Ruth, »das erinnert so schön an früher. An Großmutter und ihre Lavendelsäckchen zwischen der Wäsche.« »Ja, früher«, sagt nun Frau Schuster, also Helga, »ach früher, da war so vieles noch so schön einfach.« Amadeus gibt so etwas wie ein Schnauben von sich.

Ralf dimmt den Kronleuchter, das Licht ist jetzt golden, und auf dem Haar der Gäste schimmern kleine Aureolen. Helmut hat eine glänzende Glatze. Eine Weile hört man nur das Klappern der Bestecke, dann jault Frau Kloth, also Irma, kurz auf, dieser Schweinebauch sei doch ganz schön scharf. Und Herr Kloth, also Helmut, beugt ihren Kopf nach hinten und flößt ihr ein bisschen Amarone ein. Worauf Herr Schuster, also Heinz, mit seiner Frau dasselbe macht. Die Stimmung ist ein Grad wärmer.

»Apropos scharf«, sagt Arno, »kürzlich habe ich bei Netflix eine Doku gesehen über das schärfste Chili überhaupt.« Von Online-Videos solle er besser die Finger lassen, sagt Ruth, die verursachten ein Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes, etwa die Jahresemission von Spanien. »Jetzt also noch Glotzscham«, lacht Heinz. »Lach nur«, sagt Ruth. »So lange du noch kannst. Man muss den CO2-Ausstoß drosseln, sonst oho.«

»Ach, hört doch auf!« Das ist ein Aufschrei von Amadeus. »Den Menschenausstoß drosseln, das muss man, sonst oho.« Er reißt sich die Serviette vom Hals und schlägt sie auf den Tisch. »Aber niemand traut sich, es laut zu sagen. Davor habt ihr alle Schiss, Herrgott nochmal!« Eine Fleischfaser zwischen den Vorderzähnen scheint ihn zu stören. »Einskommaacht Milliarden Menschenausstoß vor hundert Jahren. Siebenkommaacht Milliarden jetzt. Herrgott nochmal. Und zum Ende des Jahrhunderts sindʼs dann über zehn Milliarden. Und alle wollen konsumieren. Fressen, fahren, fliegen, furzen. Ha.« »Papa. Ich bitte dich«, zischt Rita. »Die Menschheit karnickelt sich zu Tode. Und euer nettes Öko-Getue ist im Grunde keinen Pups wert.« »Papa!« Rita rüttelt an Amadeusʼ Schulter. »Warum sagt der Papst nicht mal was über das Werfen seiner Schafe?«, sagt er, immer noch laut. »Oder lässt von seinem Dome mal Kondome regnen?« »Die Kirchen tun sehr wohl etwas«, ruft Ruth über den Tisch. »Frauenförderung und all das. Aber es ist schwierig, Amadeus. Es ist nun mal ein Menschenrecht, sich fortzupflanzen. Wir dürfen nicht einfach in die Würde des Menschen pfuschen. Schwierig, schwierig.«

Akil tritt an den Tisch.»Möchte jemand noch ein wenig Schweinebauch?« »Einen munteren Vater hast du, echt«, sagt Hanne leise zu Rita. »Gäbe ein Porträt fürs Abendblatt.« »Bitte, Hanne, tu mir das nicht an.« Nicht mehr zurechnungsfähig sei er, flüstert sie, im Heim bereits angemeldet, »sehr geschmackvoll, jedes Zimmer mit Einerbalkon.«. Er putze sich nicht mal mehr täglich die Zähne. Nun sei er für fünf Tage da, länger ginge das nicht. »Gestern hat er gesagt, Ralf sei ein Schafskopf, er ist kaum mehr auszuhalten, hat immer den Hosenstall offen.« Sie könne sich nicht um ihn kümmern, sie habe ja noch die ganze Freiwilligenarbeit für den Palliativverband.

»Menschenwürde«, ruft jetzt Amadeus über den Tisch »wo ist denn da die Würde, wenn einer im Gift erstickt oder in der Scheiße ertrinkt.« »Und was soll man tun, Amadeus Unzart«, fragt Helmut professoral, »hast du ein Rezept?« Amadeus steht auf, Rita zieht ihn vergeblich nach unten. »Kastrieren! Jeden Mann, der ein Kind hat. Rechnet es durch!« »Und wenn der Mann sich weigert?«, fragt Arno. »Dann fährt der Kastratrupp der Vereinten Nationen vors Haus. Schnippschnapp.« Amadeus trinkt stehend seinen Wein aus, dreht um, geht Richtung Tür, immer noch hängt ihm das Hemd aus der Hose. »Anders lässt sie sich nicht retten, eure schöne Welt«, ruft er noch. Rita eilt ihm nach.

Von draußen kein Bäumerauschen mehr. Zu hören ist ein regelmäßiges kleines Quietschen, das muss eine Spülmaschine sein. Akil räumt die Teller vom Tisch.»Der Lavendelduft ist weg«, sagt Irma, »riecht ihr es auch?« »Wie können wir riechen, was weg ist«, lacht Heinz. »So wie wir sehen, was weg ist«, gibt Irma zurück und zeigt auf den leeren Stuhl. »Oho«, sagt Heinz, »wir haben eine Philosophin am Tisch. Dann wollen wir doch mal ganz manierlich eine Runde denken. Wer gibt ein Stichwort?« »Flüchtling«, sagt Ruth. »Peking«, sagt Arno. »Doping«, sagt Ralf. »Pudding!« ruft Rita aus dem Hintergrund. »Akil hat einen wunderbaren Pudding vorbereitet. Ich darf euch zum Dessertbuffet bitten!« Watalappan heiße der sri-lankische Pudding, sagt Rita, sie liebe dieses Wort. Vielleicht möge jemand auch ein Schnittchen Käse, nicht aus Sri Lanka, frisch vom Markt, ein Lörrauer Weichtaler, ein markanter Birrfelder, höhlengereift. Dazu eine eingelegte Birne vom lokalen Bauern. »Lasst es euch schmecken. Denken können wir immer noch!« Aus den hinteren Räumen des Hauses hört man einen dumpfen Knall. »Amadeus lässt sich entschuldigen«, sagt Rita, »er hat sich hingelegt, das Alter eben.« »Alter wär auch ein Stichwort«, sagt Arno. »Du hast gut reden, du Jungspund«, erwidert Helmut. »Wir anderen stehen ja schon mit einem Bein in der Demenz. Oder weiß jemand noch, wie dieser Pudding heißt?«

 

Auf Ritas Wunsch hat man, vom Dessertbuffet kommend, am Tisch einen anderen Platz eingenommen. »Abwechslung macht das Leben süß«, sagt Rita. »Phrasen wär auch ein Stichwort«, murmelt Hanne. »Wie? Phasen? Ja, herrlich«, sagt Helga, die nun neben ihr sitzt, »ein idealer Begriff zum Philosophieren. Hört mal alle her. Phasen ist das Stichwort für alle, die gerne ein wenig denken möchten.« »Aber nicht schon wieder Klimawandel bitte«, sagt Helmut, »geschundene Welt und Wetterphasen und all das, ich kann es nicht mehr hören.« »Phasen als Antithese zur Konstanz«, sagt Heinz und putzt sich mit Daumen und Zeigefinger Knoblauch-Ingwer-Chilipaste von den Mundwinkeln, »sind sehr wohl ein Thema. Konstanz versus Veränderung ist das Fundament jedwelchen Disputs.« »Fang nur nicht an zu sloterdijken, Heinz, hörst du«, sagt Helga. »Entschuldigt«, sagt Irma, »ich brauch mal ein Zigarettchen, bevor es allzu gescheit wird.« Als sie aufsteht, tun es ihr alle nach und begeben sich nach draußen, in einer Eile, als würden sie sonst den Bus verpassen. Auf einem Glastischchen mit gusseisernen Löwenfüßen sind Gläser und Flaschen aufgereiht, Akil bringt einen Eiskübel. »Interessanter Tisch«, sagt Arno zu Ralf. Den hätten sie mit dem Haus gekauft, sagt Ralf. Er stehe eigentlich nicht auf solche Tische. »Zu wackelig, wie?«, sagt Arno, aber das Scherzchen geht unter. »Der Alte hat ja eigentlich recht«, sagt Helmut zu Heinz, und der schaut sich hastig um, ob Rita in der Nähe sei. »Nein, er hat nicht recht«, erwidert er, »das Wachstum des Menschenausstoßes, wie der Alte sagt, kommt bis Ende des Jahrhunderts zu einem Ende. Sagt neuerdings die UNO.« Europa werde schon ab 2021 nicht mehr weiter wachsen. Helmut sagt, auf die UNO sei kein Verlass, und übrigens stehe da auf dem Tischchen tatsächlich ein Chivas Regal. Arno sagt, er sei schon längst Antinatalist, und wenn seine Eltern noch lebten, würde er sie einklagen. Irma lacht ein bisschen zu laut.

»Entschuldigung, dass ich mich einmische«, sagt Hanne, »Afrika! Dort gibt es so oder so zum Jahrhundertende dreimal mehr Menschen. Stellen Sie sich diese Armut vor.« »Gegen Armut lässt sich kämpfen«, erwidert Ruth. »Ha«, sagt Hanne, »ein Prozent der Menschen besitzt so viel wie die restlichen neunundneunzig Prozent, da kämpf mal schön.«

»Zur Zeit sind es insgesamt zweihundertdreißig Tausend pro Tag«, sagt Heinz, und Helmut kommt mit einem Whisky vom Tisch zurück und fragt »Wer, Jim Bezos? Verdient der nicht mehr?« Hanne lacht. »Wir reden von Menschen, nicht von Dollars,das ist eine andere Währung. Und? Wie ist der Whisky, zu gut fürs Gebüsch?«

Aus dem Haus sind Klänge zu hören, und plötzlich quillt dicht und laut Musik aus allen Öffnungen. »Ist das Brahms?«, fragt Irma. »Das ist mein Schwiegervater«, sagt Ralf, der habe solche – Entschuldigung – Anfälle. Alle sind still und lauschen. Niemand bewegt sich. Nur zwei kleine Schatten flattern übers Flachdach der Helblings. »Vögel, so spät noch«, flüstert Ruth. Es sind aber Fledermäuse.

Plötzlich bricht die Musik ab.

Rita tritt aus dem Haus und klatscht in die Hände. »Wir haben ganz vergessen, Kaffee anzubieten«, sagt sie mit gekonnter Munterkeit. Niemand geht darauf ein, weil Arno zu den Birken zeigt, wo ein voller porzellanweißer Mond erscheint.

Während der Mond die Strecke zwischen den beiden Baumwipfeln zurücklegt, wird bekannt, dass Helmut eine Prostataoperation vor sich her schiebt, Ruth gern ein Kind gehabt hätte, der Sohn der Schusters nicht mehr nach Hause kommt und die Bank Arno einen weiteren Kredit verweigert. Die Bäume werfen Schatten, so hell ist das mondene Licht. Hanne Franzen zieht Stift und Notizbuch aus der Tasche, schreibt aber nichts hinein, und Helmut fragt »Wie hieß der Pudding schon wieder?«