»Züri Gschnätzlets«
Im Städtischen Fundbüro an der Werdmühlestrasse beschreibt ein Mann seine Tasche: »Dunkelgelb mit Klettverschluss.« Dann holt er mit den Armen aus: »So groß, so breit.« Die Frau hinter ihm spürt ein bisschen dunkelgelben Neid, weil der Mann die Tasche so genau beschreiben kann. Dann ist sie dran.
»Ja, bitte«, sagt der Mann, der sie bedient. Auf seinem Namensschild steht Hunter. »Ich habe etwas verloren», sagt die Frau. Herr Hunter nickt. »Er war plötzlich weg«, sagt die Frau. »Wer? Was?«, fragt Herr Hunter. Die Frau sucht nach Worten. »Keine Hemmungen«, sagt Herr Hunter.« »Es war ein Satz«, sagt die Frau leise. »Ein Zahnersatz?«, fragt Herr Hunter. »Nein«, sagt die Frau, »ein Satz, ein sehr schöner Satz, mit einem schwarzen Punkt am Ende.« Herr Hunter faltet die Hände. »Vorab muss ich Sie informieren, dass wir für Verluste auf Privatgrund sowie im Bahnhof nicht zuständig sind.« »Im Bahnhof wars nicht«, sagt die Frau, »ich stand auf einem Dolendeckel.« »Öffentlicher Grund also«, sagt Herr Hunter. »Und plötzlich war er weg«, sagt die Frau. »Der Deckel?«, fragt Herr Hunter. »Nein, der Satz«, sagt die Frau. »Was war denn drin?«, fragt Herr Hunter. »Wörter halt«, sagt die Frau ein bisschen weinerlich, und Herr Hunter faltet die Hände neu.
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Es ist nicht so, dass die beiden nicht sprechen können, nein. Sie haben sich vorhin für den Kellner deutlich artikuliert. Es ist so, dass sie nicht sprechen müssen. Sie sind so innig miteinander verbunden, dass Sprechen gar nicht mehr nötig ist. Für den Wunsch nach dem Pfefferstreuer reicht ein sachtes Anheben des Kinns. So wunderbar sind die Schweigenden aufeinander eingespielt. Bestimmt sind sie schon vierzig Jahre zusammen. Der Staub der Zeit hat bewirkt, dass sie sich gleichen. Nicht nur haben sie beide gleich viel Doppelkinn und übereinstimmende Labialfalten, sie bewegen auch ihre Gabeln im selben Tempo und verschieben mit ähnlichen Zungenmanövern Gekautes im Mundraum. Leider sieht man des Tischtuchs wegen ihre Beine nicht. Es ist anzunehmen, dass sie sich während des Essens mit den Füssen zärtlich umschlungen halten. Auch auf ihren Tellern gibt es keinen Unterschied. Beide essen Schinken-Käsetoast und lassen die Gewürzgurke liegen. Einzig die Servietten handhaben sie nicht genau gleich – sie tupft, er reibt. Aber sonst, scheint es, hat das Leben sie kongruent aneinandergefügt. Und so wirkt leicht enttäuschend, was sie beim Aufstehen zischt, nämlich »Du kapierst es nie«, und was er zurückfaucht, nämlich »Lass mich endlich in Ruh«.
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Forschern in Boston ist es gelungen, völlig durchsichtige Zebrafische zu züchten. So lassen sich Experimente an Fischhirn oder Fischherz ganz einfach beobachten. Vor einiger Zeit stand das in unseren Zeitungen, aber deswegen denkt man doch nicht gleich an Zebrafische, wenn in der Aula der Universität ein großer Mann mit großem Hut sitzt. Er sitzt in der vordersten Reihe. »Sie haben noch Ihren Hut auf«, sagt der Hauswart zum Mann. »Ich weiß«, sagt der Mann. »Hut ab!«, ruft einer in der zweitvordersten Reihe. »Hut ab! Hut ab!« rufen munter ein paar andere. Doch als dem Mann der Hut vom Kopf gerissen wird, tritt vollkommene Stille ein. Stumm blicken alle auf den entblößten Kopf. Er ist durchsichtig. Unter dem durchsichtigen Schädel liegt das blubbernde glasklare Hirngewinde. Langsam dreht sich der Mann um. Von den Brauen abwärts ist das Gesicht opak. »Erschrecken Sie nicht«, sagt der Mann. »Ich bin lediglich Proband der Zürcher Zellforschung, die hier und heute ihren durchbrechenden Erfolg präsentieren wird. Leider bin ich eine Stunde zu früh.« Der Mann setzt den Hut wieder auf, und Gastdozent Wolfgünther Stusske beginnt pünktlich seine Vorlesung: Die primären Parameter des Frauenbilds bei Hölderlin unter Einbezug der Konjunktive.
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Die Frau älteren Datums schaut sich bei Jelmoli Rucksäcke an und freut sich, als sie genau den richtigen findet: leicht und weich, mit einem Fach fürs Notebook. Beschwingt bringt sie den Sack zur Kasse und empfängt von der Verkäuferin völlig kostenlos ein echtes Lächeln. Was für ein angenehmer Einkauf. Die Verkäuferin ist sehr jung und sehr hübsch, bestimmt hat sie einen himmelblauen Rucksack und einen sommerblonden Freund. »Sie haben dreißig Jahre Garantie«, sagt die Verkäuferin und merkt nicht, dass die Frau zutiefst erschrickt. Was soll ich in dreißig Jahren mit einem Rucksack, denkt die Frau. Wenn ich nicht schon tot bin, kann ich vielleicht mit dem Rucksack ins Treppenhaus schlurfen und kann mir im Briefkasten den Tages-Anzeiger holen, falls es ihn noch gibt. Dann kann ich mit der Lupe die Todesanzeigen lesen und die Namen neuer Bundesräte lernen und was man mit Apfelessig alles machen kann, nämlich das gleiche wie vor dreißig Jahren. Derweil sitzt der Rucksack mir gegenüber am Tisch und schaut mich mit abgelaufener Miene an. Ungefähr so etwas denkt die Frau und wünscht der Verkäuferin einen schönen Tag. Dreißig Jahre, furchtbar, denkt die Frau, und dann ist der Sack auch noch schwarz. Ich hätte besser einen himmelblauen genommen.
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Die Post ist voll.Wer jetzt noch hereinkommt und eine Nummer zieht, hat von 521 bis 539 zu warten. Die Leute warten ungeheuer intensiv. Sie stehen mit blinkender Ungeduld da. Niemand vertreibt sich die Zeit vor den Verkaufsregalen. Niemand will ein Ausmalbuchbuch oder ein halbes Pfund Büroklammern kaufen. Die Kunden an den vier Schaltern werden argwöhnisch beobachtet. Sie sehen von hinten aus, als würden sie ausgiebig mit den Postbeamtinnen schwatzen. Sie stützen die Arme auf, verankern die Beine neu, sie lachen sogar. Jetzt kommt 540 herein und stellt sich neben 563. Die beiden scheinen sich zu kennen. »Wie gehts so?«, sagt 540. »Ab morgen drei Tage frei«, sagt 536. »Ab in den Süden?«, sagt 540. »Nein«, sagt 536, »bloß ausschlafen, lange frühstücken, ein gutes Buch lesen.« 540 nickt. Dann machen sich beide wieder ans Warten. Plötzlich dreht sich die junge Frau vor ihnen um. »Lesen Sie doch mal ein schlechtes Buch!« sagt sie zu 536. Sie sagt es ziemlich laut. 536 schaut sie erschrocken an. »Das wär doch mal was«, sagt sie noch lauter. 536 und 540 schütteln die Köpfe. »Und trinken Sie ein schlechtes Glas Wein dazu!«, sagt die junge Frau. Es sieht aus, als wolle sie aufstampfen. Die Welt ist dumm, und Warten macht wütend.
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Vom nahen Zoo ist der Gesang der Siamang-Affen zu hören. Sonst ist es still hier, wie das in Friedhöfen so ist. Würden alle Toten murmeln, wäre der Lärm nicht auszuhalten. Auf einer Bank sitzt ein Mann mit einer großen Tasche auf den Knien und sagt ab und zu etwas. Vielleicht spricht er mit seiner verstorbenen Frau. Liebe Frau, sagt er vielleicht, wenn du jetzt bei mir wärst, würdest du dich ärgern über mich, würdest sagen: Du hast schon wieder zwei verschiedene Socken angezogen und glaubst, man sehe es nicht. Schätzungsweise hat der Mann sehr lange mit seiner Frau zusammengelebt. Die Siamangs tun das auch, bleiben lebenslänglich ein Paar. Liebe Frau, sagt er vielleicht, ich esse immer noch von der Konfitüre, die du eingekocht hast. Den Schimmel habe ich einfach druntergerührt, jaja, ich weiß schon, karzinogen und so weiter. Eine Elster macht Zwischenhalt auf einem Grabstein, zeigt kurz blauen Glanz in den Flügeln. Auch Elstern bleiben auf Lebenszeit zusammen. Liebe Frau, sagt der Mann vielleicht, da hinten liegt James Joyce, hast du das gewusst? Wenn man sich dem Mann nähert, wird klar, dass er nicht mit seiner Frau, sondern mit seinem Hündchen spricht. Es ist in der Tasche auf seinen Knien. Hunde sind im Friedhofareal verboten.
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»Guten Tag. Langnau am Albis retour bitte.« »Langnau am Albis habe ich leider nicht mehr.« »Was heißt das?« »Für Langnau am Albis hätten Sie früher kommen müssen.« »Wie bitte?« »Ab halb elf wird es immer schwierig mit Langnau am Albis. Auch mit Muttenz und Naters.« »Hören Sie, alles was ich will, ist ein Billet nach Langnau am Albis.« »Ich weiß, ich weiß.« »Also geben Sie schon her.« »Ich hätte noch Langnau im Emmental.« »Und was soll ich da?« »O, da kann man bestimmt vieles machen.« »Ich will aber in Langnau am Albis jemanden besuchen.« »O, das können Sie in Langnau im Emmental auch. Da leben bestimmt sehr nette Leute.« Die Frau hinter dem Billettschalter lächelt ihr Wie-gehe-ich-mit-renitenten-Kunden-um-Lächeln. Der Mann vor dem Billettschalter schreit: »Ich will aber meine Großmutter besuchen!« Die Frau hinter dem Schalter hält mahnend den Finger vor den Mund. »Meine Großmutter!«, schreit der Mann. »Pflegeheim Sonnwies! Erster Stock!! Zimmer Vier!!! Bett Zwei!!!!« Die Frau hinter dem Schalter hebt bittend die Hände. »Ich hätte noch Langnau bei Reiden.« Der Mann schlägt mit der Faust an die Scheibe. »In Langnau bei Reiden gibt es ein Naherholungsge...« Der Mann hämmert mit dem Kopf ans Glas. Die Frau greift zum Telefonhörer.
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»Tschiises«, sagte die Frau, »mein Portemonnaie ist weg. Tschiises!« Und schon stand er da, in der Schuhabteilung von Globus. »Du hast mich gerufen?«, sagte er. In seinen Sandalen sah er leicht seltsam aus, es war immerhin November, er hatte sehr bleiche Füße. »Schau mal in der Jackentasche nach«, sagte er in bestem Zürcher Deutsch mit einer angenehm winzigen Prise Ex-Yugoslavia-Sound. »Tschiises!« rief die Frau wieder, als sie die Jacke abtastete, »tatsächlich, da ist es.« Die Leute rundum horchten auf und traten näher an den Sandalenmann heran. »Wie die heutzutage rumlaufen«, sagte einer, »Klimaerwärmung«, lachte ein anderer. Der Schuhverkäufer winkte der Etagenaufsicht und befühlte gleichzeitig des Sandalenmanns Kleiderstoff. »Frisch geklaut, wie?«, sagte er. »Könnte Jil Sander sein, dieses helle Leinen.« »Oder Lagerfeld«, sagte die Etagenaufsicht, »neuerdings bodenlang.« Sie packte Tschiises am Arm. »Kommen Sie bitte mit.« Tschiises drehte sich nicht um. »Mach deine Wunder anderswo «, rief ihm jemand nach. »Zeig mal den Bootsflüchtlingen, wie man über Wasser läuft.« Die Leute beugten sich wieder über die Schuhe. »Tschiises, ist das teuer«, sagte die Frau mit dem Portemonnaie und hielt sich rasch die Hand vor den Mund.
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