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»Jele und Rocco – Rocco und Jele«

Die ersten Aufzeichnungen aus »Jele und Rocco«

1

Sie bleibt stehen, setzt den hinteren Fuß lautlos neben den vorderen und spürt die Furcht, die Haut wird eng.

Ein Toter!

Ein dunkles Bündel Tod, hingeworfen, weggeworfen, fast schwarz auf dem laubbraunen Waldboden. Was hell schimmert, muss eine Wade sein zwischen verrutschten Kleidern, oder ein Unterarm, unnatürlich abgedreht in einem seltsamen Winkel. Rund um die stille Gestalt fällt weiße Märzsonne durch die Bäume.

Langsam geht sie näher, lacht dann in sich hinein. Der Tote ist nichts als ein Haufen Holz. Und sie war drauf und dran, um Hilfe zu rufen. Ist das Hysterie? Heilige Gebärmutter, hilf mir.

Der Kaffee, auf den sie sich während des Laufs gefreut hat, ist lau, aber immerhin ist das Gasthaus offen. Es riecht nach Fichtenspray, bis mit energischem Klinkendruck die Tür aufgeht und ein kühler Luftstoß hereinkommt, dahinter ein Mann. Ein Jogger. Sie senkt den Blick auf ihre Tasse, hört zu, wie er ein Bier bestellt, einen Stuhl verschiebt, Bierteller auf Bierteller fallen lässt und sie klopfend ordnet.

Während sie sich neu zurechtsetzt, schaut sie ihn an. Sie mag sein Gesicht und erschrickt darum ein bisschen, Haare kurzgeschoren, Hände älter als Kopf.

Sie sind die einzigen Gäste. Abrupt steht er auf, legt hörbar Münzen auf den Tisch und nickt ins Unbekannte. Wieder der energische Klinkendruck an der Tür. Sie ginge gerne mit.

2

Könnte ja sein.

Sie hat den letzten Sonntag noch gespeichert. Wald und Mann und Bierteller, kurzes Haar, kurzer Blick. Bevor sie das löscht, will sie die gleiche Strecke nochmals laufen.

Könnte ja sein. Warum nicht. Andere rubbeln Gewinnzahlen frei. Der Regen ist so fein, dass man ihn nicht sieht, die Luft ist wie nasse Gaze, die Stämme sind schwarz, die Äste schwer. Ihre sorgsam aufgesteckten Haare haben sich längst gelöst, sie zerrt die Haarnadeln heraus und schüttelt den Kopf, dreht ab vom Weg und kurvt um die Bäume.

Den Toten findet sie nicht mehr.

Das Aufstampfen hinter ihr hört sie erst, als der Läufer schon fast an ihrer Seite ist. »Nass heute«, sagt er. Sie laufen nebeneinander wie ein Vehikel, ein zweimotoriger Doppelkeucher. Erst vor dem Mooshof halten sie an.

Also Rocco heißt er, was nicht so ganz passt, so wie er die Jacke auszieht und über die Stuhllehne hängt, mit geduldigen Bewegungen, wie er am Ärmel die Brille trockenreibt, sorgsam, langsam.

Heute riecht es nach Spiegelei.

Sie spürt einen dröhnenden Hunger, doch weil er nur ein Bier bestellt, begnügt sie sich mit Kaffee, gibt allen Rahm dazu und vier Stück Zucker, und rührt. Rührt um und um und sucht einen passenden Satz. Sie hat eine Scheu vor seinem entblößten Blick und sieht gerne zu, wie er die Brille wieder aufsetzt.

3

Auf dem Weg zurück rennen sie nicht. Es vorzuschlagen oder einfach in Trab zu fallen, läge wahrscheinlich an ihr. Ein warmer Wind drückt sie sanft zurück, schiebt in kurzen Stößen Gewölk über die Sonne. Wie wenn jemand am Lichtschalter spielt, könnte sie sagen. Oder: wie Wackelkontakt. Aber das tönt wohl zu aufgesetzt. Oder: wie Fieberschübe. Noch gestelzter. Sie sagt: »Meine Haare sind wieder trocken.« Ihr rechter, sein linker Arm schwingen aneinander vorbei. Sie stellt sich vor, wie es wäre, würde sein Arm innehalten und seine Hand ihre Hand ergreifen. Ihre Hand stellt sich vor, wie es wäre. Sie steckt die Hände in die Taschen.

Erfreutes Erschrecken, als sie stolpert und seine Hände spürt.

Jetzt, Arm in Arm, gehen sie schneller als vorher. Der warme Wind fällt ihr nun in den Rücken.

Wäre sie allein, würde sie stehenbleiben und einmal mehr die Socken hochziehen, die ihr über die Fersen in die Schuhe gerutscht sind.

4

Er schläft, sein Arm liegt auf ihr wie ein gefällter Ast. Er träumt, manchmal zuckt seine Hand. Sie möchte ihren kalten Fuß unter die Decke ziehen, aber dann würde die ganze Körperlandschaft verschoben, das könnte ihn wecken.

Sie will, dass er schläft, will still sein, nichts teilen, nichts sagen, nichts denken, nichts kaputtmachen.

Alles schließen, so wie man in der Kälte den Mund schließt und die Zunge in der Wärme geschmeidig bleibt.

Nicht loslassen die Lust, die Bilder in der Haut, von diesem hektischen Ritt über die grünen Horizonte. Das Gewucher am Boden ist ein wilder Kleiderhaufen, die Schatten dahinter sind fremdes Gewächs: Möbelstücke, die sie nicht kennt, Dinge, die sie noch nie berührt hat, nichts nimmt im Dunkeln bekannte Gestalt an, sie späht umsonst. Aber sie mag den Geruch des Betttuchs.

5

Seinen Vater liebt er nicht und seine Mutter lebt nicht mehr. Wenn er von sich erzählt, spricht er leise und schnell und hört rasch wieder auf. Wenn’s um anderes geht, sind seine Sätze lang und sauber aneinandergehakt. Sicher spricht er auch in der Schule so. Sie stellt Käse, Brot und Wein aufs Tablett, weiß nicht, ob sie’s zum Tisch tragen und da die Kerzen anzünden soll. Er sitzt ja bereits vor dem Kamin auf dem Teppich. Hoffentlich reicht das Brennholz.

Mag sein, dass es ihm hier zu ordentlich ist, zu kühl, seine Altstadtwohnung ist spezieller, verwinkelt, ein Fuchsbau, leicht muffig.

Und, wie findest du’s?, hat sie gefragt, und er hat etwas Höfliches gesagt von Luft und Licht und italienischen Farben und dass er von Gestaltung nicht viel versteht.

Sie würde gerne fragen, warum sie ihm gefällt.

Sie würde gerne wissen, warum das alles so schnell ging.

Und ob sie – wenn er sagt, er wäre gerne Erforscher geworden – einfach nur sein weißer Flecken ist, für eine bestimmte Zeit. 

»Rocco, rede ich zu viel?«

»Nein, ich schau dir gerne zu, wenn du redest.«

»Hörst du auch zu?«

»Ich sehe zu, was du sagst, und ich höre zu, wie du aussiehst.«

»Und was hörst du da?«

»Wimpernrauschen. Und eine Oberlippe, die auf der unteren hoppelt.«

»Was noch?«

»Schlurf, schlurf, eine Falte, die sich anschleicht, die Nase hoch.«

»Ich brauche dringend ein Redesieb, das nur durchlässt, was wichtig ist.«

»Wer weiß denn schon, was wichtig ist?«

»Vielleicht braucht man’s gar nicht zu wissen. Vielleicht reicht es, wenn man’s spürt.«

»Dem Spüren trau ich nicht so ganz.«

»Erst durch das Spüren lernt das Wissen fliegen.«

»Wer hat das gesagt?«

»Jele herself.«

»Muss eine gescheite Frau sein, diese Herself.«

6

Das Öffnen eines Fensters, das Warten vor dem Bildschirm, das Knurren der Kaffeemaschine, alles hat eine neue Qualität. Das Papier ist seidiger, der Bleistift rollt ihr kühler über die flache Hand. Sogar ihre eigenen Haare fasst sie lieber an. Das Licht wird weich, wenn sie an Rocco denkt, und das tut sie alle Augenblicke. Sie denkt ihn herbei.

Was vor Rocco wichtig war, ist in verschleierte Ferne gerutscht. Was vor Rocco lästig war, ist jetzt hinter Glas – etwa die Stimme ihrer Mutter, wenn sie jammert, oder das geile Grinsen des Hauswarts.

Sie könnte Rocco im Lehrerzimmer anrufen, er hat jetzt Pause. Vielleicht mag er das nicht. Vielleicht ruft er an? Er hat ja ihre Nummer, er hat sie einmal angeschaut und gleich im Kopf behalten. Er kann so was. Sie wusste nicht mal die Nummer ihres Autos, als sie noch eins hatte. Dafür kann sie auf Anhieb die Wörter verkehrt herum sagen, die kurzen wenigstens. Occor. Nofelet. Ebeil. Er hat wohl doch keine Zeit anzurufen. Oder er will nicht, dass ihm andere zuhören.

Sie denkt ihn herbei, wie er den Hörer schon in der Hand hat und lautlos wieder auflegt.

7

Es war ein wunderbarer Spaziergang – Roccos Weg –, sie kostet ihn nach, Stück für Stück. Den Aufstieg in die Bläue, immer Roccos Hand in ihrer Manteltasche. Auf den Wiesen war dieser lila Frühlingsschaum, und weiter unten dieses silberne Zwinkern des Wassers, und einmal rannte Rocco davon, aber sie holte ihn ein, wobei sie derart keuchte, dass sie sich an seinem Kuss fast verschluckte. Sie weiß nicht, was sie lieber an ihm mag, sein verlegenes Ich-seh-bloß-so-schüchtern-aus-Gesicht oder seine kritische Miene, wenn er etwas erörtert, wenn er die Brille abhebt und sich mit der schönen, kräftigen Hand die Nasenwurzel massiert. Sie liebt diese Hand, sie spürt sie gerne auf sich.

8

Diesmal wird es ihr Spaziergang sein, sie wird Rocco vom Stadtrand in die Altstadt führen, zuerst quer durchs Industriequartier, dann am Kanal entlang, dann gibt es einen weißen Rum in der Wirtschaft am Güterbahnhof. Vom Ecktisch sieht man auf die Geleise. Sie wird ihm sagen, dass sie diesen Tipp von der Redaktion hat, von Lars wird sie nicht erzählen.

Sie freut sich bis in die Hände.

Rocco mag glanzlose Lokale. Was noch? Flüsse. Bier. Traurige Filme. Vögel. Schafskäse. Weiche Matratzen. Mehr weiß sie noch nicht. Rocco mag Jele. Jele liebt Rocco.

Pünktlich ist er nicht. Nun wartet sie seit einer Viertelstunde. Bestimmt kommt er mit dem nächsten Bus. Oder in einem Taxi angebraust. Sie wird seine zerknirschte Miene wegküssen.

Die Sonne rutscht langsam hinter die Wolken. Jetzt wär’s schön, loszuziehen, in diesem seidenweichen Windchen. Rocco, komm endlich. Er muss irgendwo feststecken, eine Dreiviertelstunde bald.

Endstation Sehnsucht.

Er kann es nicht vergessen haben. Oder falsch verstanden. Das war doch klar: ein Uhr. Endstation Zwölfer. Er wird doch nicht etwa – am anderen Ende des Zwölfers warten?

9

Sie hat sich entschuldigt für ihre Ungenauigkeit. Er war sehr höflich. Warum hätte ich annehmen sollen, dass du in einer Ungegend spazierengehen willst, sagte er. Sie würde gerne weinen. Seine Höflichkeit ist wie Panzerglas. Sei nicht so, bitte, denkt sie. Ich bin doch gar nicht alleine schuld. Du hättest ja nachfragen können. Welche Endstation?, hättest du fragen können.

Sie sagt lieber nichts. Wenn sie jetzt den Mund aufmacht, kommt ein Schluchzen raus.

Es war eine schlechte Idee, einfach bei ihm zu läuten. Die Umarmung vor der Wohnungstüre ist nicht gelungen. Sie ist abgerutscht an diesem Panzerglas. Und dann hat er sie hereingebeten wie eine Bittstellerin.

Und jetzt noch diese Musik. Auf solchen Akkorden rutscht sie unweigerlich aus und fällt ins Tränenwasser.

In der Küche pfeift der Wasserkessel. Sie will eine Tasse von Roccos Tee trinken, dann will sie gehen.

10

Das hat sie gern gemacht als Kind: mit einem Stock ratternd über den Staketenzaun zu streichen. Jetzt streicht sie gerne mit dem Finger über Roccos Wirbel, auf, ab. Sie reibt seine kühle Nasenspitze, wie damals die kühlseidene Einfassung der Wolldecke. Sie bohrt sich mit dem Kopf in seine Achselhöhle – nichts mehr sehen von rundum, wie damals beim Versteckspiel. Mal wird sie klein und ganz kompakt in Roccos Arm, mal wird sie groß und weit und weich, ein Makro-Blütenschlund.

11

Am liebsten möchte sie stehenbleiben und stampfen. Sie. Freut. Sich. So. Aber sie läuft, so rasch sie kann, sie darf auf gar keinen Fall zu spät kommen, heute tritt der neue Redaktionsleiter an. Und sie will sich in der Ferienliste eingetragen haben, bevor er sie zum Gespräch bittet. Zwei Wochen, zwei Sommerwochen, zwei Roccowochen. Zweite Hälfte Juli werde ich weg sein, wird sie sagen. Das ist schon lange gebucht, und ich kann es nicht verschieben. Wohin fahren Sie denn, wird er... Kennen Sie die Kurische Nehrung? Nein? Das ist ein dünner Landfinger in der Ostsee. Gehört zu Litauen, jaja, im Baltikum, ganz richtig. Eine Kulturreise, wird er... Ja, so etwas Ähnliches, Herr Redaktionsleiter – die Hauptstadt Vilnius ist von der Unesco erklärtes Kulturgut, und auf der Nehrung werden wir uns in den warmen Sand buddeln und einander festhalten, ich und Rocco, und Ihr neues Konzept, Herr Redaktionsleiter, das wird mir sehr egal sein, dann, auf der Kurischen Nehrung, da wachsen Kiefernwälder aus dem Sand, sagt Rocco.

»Keine Augen im Kopf?«, ruft ihr der Mann hinterher, den sie im raschen Laufen angerempelt hat. »Entschuldigung«, ruft sie zurück.

Nein, keine Augen im Kopf, tut mir leid. Die liegen noch auf Roccos Bettdecke und schauen zu, wie er sein Hemd falsch zuknöpft.

12

Vielleicht war es nicht richtig, Rocco in ihr altes Zuhause zu bringen. Er ist so auffällig langsam die Treppen hochgestiegen. Sie hätte ihn am liebsten geschoben. Doch dass kein Gespräch in Gang kommt, braucht sie nicht zu befürchten. Um Mutter war es nie still.

Sie zeigt ihm ihren Lieblingsplatz auf dem breiten Fensterbrett. Ob Rocco das Gesicht im Dach des Nachbarhauses auch sieht? Es wird schon gut, hatte das Gesicht jeweils gesagt, wenn Jele, schwer von Besorgnis, aufs Fensterbrett kletterte. Wie alt war sie da, acht? Zehn? Es wird schon gut, zwinkerte das eine Auge, die kleine Dachluke links.

Nichts hat sich geändert an diesem Zwinkern, an diesem Dach, an dieser Aussicht. Sogar das rostige Zeug auf der Dachzinne ist noch da. Nur der Himmel, heute blau, ist etwas zerkratzter.

Und Mutter ist deutlich älter. Sie zittert ums Kinn. Aber sie hat sich geschminkt.

Rocco weiß nun, wie sie großgeworden, wie sie Jele geworden ist. Er weiß, auf was für einem unsäglichen Sofatisch ihre Malstifte gelegen haben.

Wenn sie draußen sind, wird sie Rocco umarmen.

13

Sie möchte ihn immerzu anfassen, sein Kinn: Sandpapier, seine Ohren: Tintenfischchen, aber das geht nicht in diesem Lokal, im Fünfeck, wo man ihn kennt, wo er mit einem Heben des Kopfes grüßt, dahin, dorthin.

»Freunde?«, hat Rocco gesagt, »ich weiß nicht, ob es Freunde sind.« Was sind es denn? »Meine Nachtmenschen

Sie ist die einzige Frau zwischen den Nachtmenschen, Rocco sitzt ihr gegenüber, sie fühlt sich schön und wohl. Erst jetzt sieht sie, dass Roccos Augen seitlich schräg abfallen, accent aigu und accent grave links und rechts der Nase. Von der Seite ist ihr das Roccogesicht vertrauter. Sein Profil könnte sie zeichnen.

Der neben ihr, der Laute, heißt Franz. Wenn er lacht, legt er ihr die Hand auf den Unterarm. Damit er endlich aufhört, von Computern zu reden, fragt sie, in welchem Zeitalter er gerne gelebt hätte. »Vielleicht im Mittelalter«, sagt Franz, »als Pfaffe«, und faltet die Hände über einem Bauch. »Ein Leben ohne Zweifel, das wär’s. Mit einer Pfarrköchin, die so aussieht wie du. Und mit einem Weinkeller.«

Sie lacht. »Hörst du, Rocco?«

Rocco hört nicht, er blickt zu einem Manuel, der gerade begrüßt wird.

Und ihr wird ein bisschen schwindlig.

14

Rocco rennt voraus. Manchmal rennt er querwald, über Strünke und Fallholz, vom Warmen ins Kühle und wieder ins Licht, dann muss sie keuchen. Das Buchenlaub ist noch nicht ganz erwachsen, hat noch das helle Grün, die Fichtenzweige haben neue Fingerspitzen, sie knipst sie im Vorbeilaufen ab.

Wenn Rocco plötzlich stehenbleibt, um zu horchen, muss sie aufpassen, dass sie ihn nicht umrennt. Der Farn ist noch nicht entrollt, aber die Erde riecht schon sommerig. Wieder bleibt Rocco stehen und dreht sich um. Ist was?

Er drückt sie gegen einen Baumstamm, sie spürt an den Schulterblättern die grobe Borke.

Er pustet ihr die Haare aus dem Gesicht, dann küsst er sie und sagt: »Das ist die Baumstellung, getraust du dich?« Sie zerrt an ihrer Hose. Der Kuss verrutscht, sie lacht, und schon dringt Rocco in sie ein, und der Wald wächst davon.

15

»Das ist die Fotoautomatenstellung«, hat er gesagt, »getraust du dich?« »Nein«, hat sie gerufen und den grauen Plastikvorhang der Kabine sofort wieder aufgerissen. An seinem Gelächter merkt sie, dass sie reingefallen ist. Er hört nicht auf mit Lachen.

Sie glaubt nun mal, was Rocco sagt.

Sie quetschen sich nebeneinander auf den Hocker und Jele probiert im Spiegel, ob sie den Kopf schräg oder gerade halten soll. Sie will ein ernsthaftes Bild, eins, das in einen ovalen Rahmen passt, oder emailliert auf einen Grabstein. Jele und Rocco.

Aber Rocco fängt immer wieder zu lachen an. »Nun sei mal ruhig. Und schön. Ich werfe das Geld ein.«

Sie wird Rocco wählen lassen, welche zwei von den vier Bildern er will.

Sie wird eines wie zufällig auf ihrem Arbeitstisch liegen lassen. Wer ist denn das, wird Yolanda fragen. Und Redaktionsleiter Heiner wird gar nichts sagen.

Und das zweite Bild... Sie ist nicht sicher, ob sie jetzt die Augen zugekniffen hat, vielleicht müssten sie noch ein zweites Mal Geld einwerfen. Aber Rocco ist schon aufgestanden. 

»Sag mir drei Dinge, die du nicht magst.«

»Ach Jele, was bohrst du so?«

»Will eben alles von dir wissen.«

»Also gut, ich überlege... Ich mag nichts, was bohrt. Solche Fragen. Oder Kopfschmerzen. Oder Ölscheiche. Ist das Bohrangst?«

»Ja, und das bedeutet, du gehst nicht gern in die Tiefe.«

»So ist es, Frau Tiefenpsychologin, und jetzt weißt du alles von mir.«

»Du bist also durch und durch oberflächlich.«

»Ist doch meistens das Beste am Ding, die Oberfläche. Katzenfell. Schneedecke. Pfirsichhaut. Und davon abgesehen: ohne Oberfläche keine Existenz, keine Tiefe, nichts zu bohren, also streichle meine Oberfläche, und ich sage dir, was ich tatsächlich nicht mag.«

»Bin schon dabei, Herr Professor. Leg dich hin.«

»Linsen in Dosen. Leute, die sich selber suchen. Hohe Töne. Süßsaures. Wanderlieder. Abkürzungen.«

»JLR auch nicht?«

16

Zum ersten Mal mit Rocco im Ausland, wenn auch nur für einen Tag, aber doch. Sie haben französisch reden müssen, Rocco kann’s besser als sie. »Le vin a un goût de bouchon, Monsieur. Veuillez nous donner un autre.« Nach Colmar sind sie falsch abgebogen, aber das macht nichts, sie schaukeln gemächlich hangauf, hangab durch das aufgeräumte, rebpfahlgrade gestreifte Land.

Sie hat das Grüppchen schon von weitem gesehen, aber dass die plötzlich auf die Straße treten, war nicht zu vermuten. Etwa sieben sind es, Burschen, fast Kinder noch, sie schwenken eine Plastiktüte.

»Langsam, Rocco, die wollen etwas verkaufen.«

Südländische Gesichter, ziemlich übermütig. Langsam, Rocco! Sie legen ihre Hände auf die Motorhaube, dunkle Hände, kleine Hände. Halt, du fährst sie um!

Er hat einen umgefahren, oder was sonst war dieser dumpfe Schlag? Sie dreht sich um, da stehen sie, verstört. Einer fuchtelt mit den Armen. Arrêtez! Einer liegt.

»Rocco, wir müssen halten!«

Der Wagen quietscht, peitscht Zweige zur Seite, sie klammert sich fest, blickt immer noch zurück, sieht nur noch Staub, niemanden mehr.

Noch eine Kurve. Dann spürt sie, dass der Wagen auf den glatten Belag der Hauptstraße rollt.

17

Lass mich raus, müsste sie sagen. Ich gehe zurück. Wenn sie’s jetzt sagt, ist sie in ein paar Minuten wieder dort. Bei diesen Containern kann er auf der Seite kurz anhalten. Oder da vorne an diesem Feldweg. Verpasst.

Halt, müsste sie sagen. Ich lass doch nicht einfach jemanden liegen! Wir sind schuld, Rocco. Wenn sie rennt, kann sie in ein paar Minuten dort sein. Sie kann auch ein Fahrzeug aufhalten. Nur ein kurzes Stück, kann sie sagen. S’il vous plaît. Accident.

Was, wenn der Junge ganz dumm gefallen ist, mit dem Kopf aufgeschlagen, auf dem Bordstein? Vielleicht hat er sich nur etwas gebrochen. Lass mich raus, der muss zum Arzt, müsste sie sagen. Vielleicht ist der Junge illegal hier, getraut sich nicht in ein Spital. Dann wächst er schief zusammen, ein Krüppel, und sie ist schuld. Sie und Rocco sind schuld, der Junge wird ein verpfuschtes Leben haben, wird von irgendeinem muffigen Bett zu irgendeinem schäbigen Stuhl humpeln, wird warten, dass ihm seine Mutter irgendeine billige Freude bringt.

Und immer wird sie, Jele, diese Schuld spüren, wird wissen, dass sie nicht geschrien hat – lass mich raus, sondern geschwiegen hat, als Rocco seine Hand auf ihr Knie legte und sagte, »Jele, die Sonne!« Eine rote, flammendrote Schuld über dem schwarzen Waldsaum.

18

Sie hat seine Stirne so vergrößert, dass sie den ganzen Bildschirm füllt, Roccohaut, einundzwanzig Zoll, und dahinter, denkt sie, ist Roccohirn, ist unbekanntes Land.

Das kleine Bild aus dem Automaten hat sie erst eingescannt, als niemand mehr im Büro war. Und so war es totenstill, als die beiden Gesichter auf dem Bildschirm erschienen. Die Jele auf dem Bild blickt zu Rocco, Rocco schaut geradeaus, zur Jele auf dem Stuhl. Die sitzt so bewegungslos da wie die Jele auf dem Bild und wundert sich. Dass Rocco eine Stirnfalte hat, ein Ausrufezeichen rechts über der Nase, hat sie vorher nicht gesehen.

Trotz der Falte sieht er jünger aus als gestern beim Nachhausefahren, als sein Profil erstarrt war in einer Schweigemasse. Manchmal pfiff er ein paar Takte, aber an ihr vorbei, als sei sie gar nicht neben ihm.

Strich um Strich radiert Jele die Jele vom Bildschirm, erst das Haar, dann Schultern, Hals, Gesicht. Nun liegt nur noch ihre Hand auf Roccos Schulter, ein rosafarbenes vielfingriges Tierchen, vom Zufall angeschwemmt. Und jetzt tauft Jele den Hintergrund noch um, von Lindengrün auf Blutrot.

Wir gehören nicht mehr zusammen, Rocco.

19

»Danke, gut.« Was soll sie sonst auf seine Frage antworten? Danke, gut. Nur das Herz fühlt sich gerade etwas beengt, ich hab es vakuumverpackt.

»Ins Kino? Gerne ja.« Was sollen sie denn sonst anfangen? Gerne ja. Im Kino kann ich die Augen schließen, sie brennen, sie brennen.

»Also, dann.« Also dann.

Es ist ein Film, der Rocco gefällt, sie hat bald genug von den fliegenden Wildgänsen, von den langsamen Schwenken über regengrünes Land. Eine Zeitlang versucht sie, der Geschichte zu folgen, ohne auf die Untertitel zu blicken. Dann gibt sie auf und schließt die Augen. Am liebsten wäre sie jetzt gleich zu Hause, ohne also dann, danke gut, gerne ja.

Sie könnte ihre eng gefalteten Hände voneinander lösen, könnte Rocco berühren. Sie könnte eine Hand zu ihm hinüberstrecken. Oder sie einfach unter seinen Arm schieben.

Es ist Roccos Hand, die den Weg gemacht hat. Sie legt sich über ihre verknäulten Finger. Sie ist kühl und groß. Jetzt fangen ihre Augen wieder an zu brennen. Sie lässt sie zu und drückt ihr Gesicht in Roccos rauhen Jackenstoff, an Roccos reglose Schulter. Jetzt tut das Nichtssagen wohl.