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»Berghau«

Angelika Waldis: »Berghau«, Atlantis Verlag Zürich 2023, ISBN 978 3 7152 5504 0

Leseprobe: So fängt es an …

Etwas stürzte ein.

Der Boden zitterte.

Amai griff nach Erwins Arm, der zitterte auch.

Sie blieben stehen. Auch das blonde Gras links und rechts des Wegs zitterte, zitterte wild. Und die Wacholderstauden und der alte Holzzaun. Nur am Himmel tat sich nichts. Der war blank und blau, straff zwischen die Felsen gespannt.

Sie standen und lauschten. Aus einem dumpfen Poltern wurde ein Dröhnen und Krachen, durchsetzt von giftigem Pfeifen, dann folgte ein rutschhaftes Rumpeln und ein Knallen wie Feuerwerk und dann Stille.

»Was ist das?«, fragte Erwin halblaut, und wie zur Strafe, dass er mit seinem Flüstern die Luft bewegt hatte, ging es nochmals los, lauter noch, und plötzlich ließ er sich fallen, der Lärm, wie ein erschöpfter Hund.

Das Zittern war weg.

Sie sahen einander an. Aufwärtswandern oder umkehren? Die kleine Senke hatten sie schon zu zwei Dritteln hinter sich, oben würden sie Rundumsicht haben, also weiter. Erwin ging voraus. Seine helle Wanderhose hatte auf dem Hintern zwei violette Flecken, wie Augen, die zu zwinkern schienen. Amai dachte, es ist wohl so, ich liebe dich.

Die Stille war dieselbe wie vor dem Krach, aber jetzt schien sie plötzlich unheimlich. Es war ihr nicht mehr zu trauen. Amai merkte, dass sie ihre Füße sorgfältiger aufsetzte, so als dürfe man sie nicht hören. Und es kam ihr vor, als wolle auch Erwin keine Geräusche verursachen. Wir schleichen uns an, dachte sie, an wen, an was?

Sie hatte Durst, aber stehen bleiben und die Flasche auspacken, das ging jetzt nicht, sie mussten hoch, so schnell sie konnten, sie mussten wissen, was los war. Über Erwins Kniekehlen lief Schweiß. Mit scharfen Pfiffen verfolgten sich zwei Krähen. Erwin blickte über die Schulter nach hinten und sagte »Bergdohlen«. Dann eben Bergdohlen. Was zum Teufel war da oben oder unten oder hinten oder drüben eingestürzt?

Als sie auf der Krete standen, hielten sie einander fest. Ein Weitergehen gab es nicht, der Hang vor ihnen war kahl, war bloßer Fels, leergeräumt, ein sauberes dunkles Faltenkleid, das sich nach unten bauschte, der ganze grüne Überwurf war weg, Gesträuch, Kraut, Gras weg. Und unten am Saum türmte sich eine braungraue Masse, soweit das Auge reichte. Weit entfernt, auf der anderen Seite des blankgescheuerten Hangs, bewegte sich etwas, da waren – klein wie Ohrwürmer – zwei oder drei Gestalten, es sah aus, als winke eine. Erwin winkte zurück.

Wieder die Dohlen, zijag zijag zijag.

»Hörst du?«, sagte Amai. »Was?« »Dieses Grummlige.« Erwin hörte es nicht. »Als würde eine Katze gleich schnurren.« Erwin hörte es nicht. »Und was jetzt?«

Erwin hängte Flüche aneinander, schwedische Flüche, Amai verstand sie nicht, sie wusste nur, dass es Flüche waren. Dann sagte er: »Nichts wie weg hier, zurück.«

Diesmal ging Amai voraus. Sie sah beim Abstieg verwundert, wie viel sie beim Aufstieg übersehen hatte. Schieferplatten, schimmernd wie Wasser, Polster von fetter Hauswurz, leere Schnirkelschneckenhäuser, hunderte hellblauer Blüten wie ein Schwarm von kleinen Faltern. Gerade, als sie das Knallblau eines Enzians sah, rutschte ihr vorderer Fuß weg und sie schlitterte ein paar Meter abwärts. Ein Felsbrocken stoppte sie. Erwin hinter ihr schrie etwas, wieder so was schwedisch Gefluchtes. Sie stand sofort auf und ging weiter. Beide Handballen waren aufgeschürft, das zeigte sie Erwin nicht. Da, wo sie beim Aufstieg gerastet und sich umarmt hatten, hielt sie an. Erwin holte die Flasche aus dem Rucksack. Noch immer sah man nicht ins Tal. Noch immer waren sie in menschenleerem Gelände, ein Windchen fächelte die Wärme weg.

»Wir hätten Bilder machen sollen.«

Mit »wir« meinte Erwin sie. Sie hatte bislang fotografiert, sie hatte die bessere Kamera, das neuere iPhone. Manchmal sprach er wie ein Lehrer. Nun, er war ja auch einer.

Ja, sie hätten Bilder machen sollen.

Ob der Mann an der Seilbahn noch da war? Der würde staunen, dass sie schon wieder zurückkamen. Da sind wir wieder, der Weg ist weg! Schöner Satz. Weg ist der Weg. Und weg die halbe Welt. Der Mann hatte auf seiner Mundharmonika geübt für nächsten Sonntag, da wollte er mit seinem Kollegen auf einem Ausflugsdampfer auftreten. Er spielte etwas vor, für Amai. Weil ihre Haare rot seien wie eine Alpenrose. Stimme gar nicht, hatte Erwin nachher gesagt. Ihre Haare seien rot wie eine Hagebutte. Oder wie diese spanische Wurst, wie heißt sie schon wieder. Oder wie kalte Pizza. »Und du hast Ohren wie geschälte Garnelen«, hatte Amai erwidert, »warum cremst du die nie ein?«

Es war ein vergnügtes Dasein.

Es war, bevor etwas einstürzte.

Sie eilten bergab, sie rannten fast. Wenn sie stehenblieben, hielten sie ihr Keuchen an, um zu lauschen. Nichts, kein Poltern, kein Rumpeln mehr. Auch Muhen oder Meckern war nicht zu hören. Einmal ein Helikopter, weit weg. Erwin trank die Flasche leer, sah Amais Blick, sagte Entschuldigung. Sie hätten zwei Flaschen einpacken sollen. »Weiß jemand, wohin wir wollten?«, fragte Amai. Nein. Niemand, sie hatten sich im letzten Moment umentschieden. Sobald sie aus dem Funkloch waren, würde sie ihren Bruder anrufen, vielleicht hatte der etwas gehört von einem Felssturz oder so. Warum tauchten hier nicht weitere Helikopter auf? Amais Handballen brannten. Noch schätzungsweise fünfzehn Minuten bis zur Seilbahn. Nach der nächsten Kuppe sollte sie zu sehen sein, die alte Seilbahn, blaue Zweierkiste, die Sitze mit grünem Filz überzogen.

Es war Erwins Idee gewesen, diesen Ausflug zu machen. Noch einmal richtig Berge, richtig Luft, richtig Weite. Noch einmal richtig Sommeralpwiesenkuhfladengroove, richtig Bewegung, richtig Muskelkater, bevor sie in der Stadt ihre neue Stelle antraten, sie beim Schulamt und er vier Wochen später an der Kantonsschule. »Pause«, sagte Amai und zeigte auf einen Streifen gelbes, trockenes Moos. »Sitzen.« Sie war plötzlich müde. Sie mochte nicht mal mehr »Schneeberge« sagen, streckte nur den Zeigefinger aus und fuhr über den Horizont, über das verschneite Zickzack unter der Bläue. »Wie von Gott abgebissen«, sagte Erwin. Das ist schön, dachte Amai, und wartete darauf, dass Erwin jetzt noch was von Gott und dem in die Tiefe gestürzten Berghang sagte. Aber er legte sich neben sie ins Moos und sagte nichts mehr.

 

Bei der Seilbahn war niemand. Kein Mann mehr mit Mundharmonika. »Hallo«, rief Amai. Hallo. Hallo. Nichts regte sich. Erwin setzte sich hin und sprang gleich wieder auf, da waren Brennnesseln. Und dann sahen sie das Seil, das armdicke Stahlseil der Bahn, es hing, es baumelte leicht, und weiter unten lag es am Boden. Und noch weiter unten lag etwas, das sah aus wie ein gestürzter Mast.

Oben im Blau war eine einzige Wolke.

Ein wunderbarer Tag.

Das Schlimmste war, dass Erwin nicht mehr fluchte.

Sie fanden den Weg zum Berghau nicht sofort. Etwa zehn Minuten rechts, dann leicht bergauf, hatte der Mundharmonikamann gesagt, dann sei die Fahne zu sehen. Wenn der Berghau-Sepp guter Laune sei, koche er Älplermagronen, und seine geräucherte Ziegenwurst könne man kaufen. Aber nein, heute sei ja Montag, da sei der Berghau zu. Erwin sah bleich aus. Und dann diese rot verbrannten Ohren. Amai lachte und kam sich dumm vor. Rundum war reiner Schrecken, und sie lachte. Sie presste die brennenden Handballen auf einen Fleck grünes Moos, das kühlte, dann rannte sie Erwin auf dem schmalen Weg hinterher.